Bücher zum Vers (66)

Andrea Geier / Jochen Strobel (Hrsg.): Deutsche Lyrik in 30 Beispielen.

Meint: „Von den Anfängen bis zur Gegenwart“, also von Andreas Gryphius / „Menschliches Elende“ bis Durs Grünbein / „Biologischer Walzer“. Dabei bekommt jeder der von unterschiedlichen Verfassern vorgestellten dreißig Texte (was auch meint: dreißig Dichtern) um die zehn Seiten Raum, was ja schon für eine gewisse Ausführlichkeit reicht.

Die Texte selbst sind eine bunte Mischung von sehr bekanntem – „John Maynard“ von Fontane – und eher unbekanntem – „An Gerstenberg“ von Gleim. Auch die Herangehensweisen sind vielfältig. Da sollte eigentlich für jeden etwas dabei sein … In jedem Fall ein Band, in den man hineinschauen kann!

Erschienen 2011 bei Fink / UTB.

Ohne Titel

Wonach der Sinn mir steht?
Nach einem Honigbrot – süß, klebrig,
Im Sommer eine Art von Fliegentod;
Doch jetzt ist Winter, und mir steht
Der Sinn nach einem Honigbrot.

Erzählverse: Der iambische Vierheber (1)

Iambische Vierheber sind eigentlich Reimverse! Sie wurden und werden zwar auch ungereimt & gereiht eingesetzt, aber die Menge der Texte, die so vorgehen, ist doch gering.

Eigentlich schade: Denn wirkungsvoll ist der Vierheber auch hier, es entstehen angenehm unaufdringliche Verse, deren Gestaltung und Bewegung immer wahrnehmbar ist, sich aber nie zu sehr in den Vordergrund drängt.

Gegenüber dem „großen Verwandten“, dem fünfhebigen Blankvers, fällt dabei die weitestgehende Abwesenheiten der vielen metrischen Ausnahmen auf, die den längeren Vers so vielgestaltig machen! Der Vers hat also so gut wie immer diese Gestalt:

x X / x X / x X / x X

Als erstes Beispiel nun Conrad Ferdinand Meyers „Das Seelchen“:

 

Ich lag im Gras auf einer Alp,
In sel’ge Bläuen starrt‘ ich auf –
Mir war, als ob auf meiner Brust
Mich etwas sacht betastete.
Ich blickte schräg. Ein Falter saß
Auf meinem grauen Wanderrock.
Mein Seelchen war’s, das flugbereit,
Die Schwingen öffnend, zitterte.
Wie sind die Schwingen ihm gefärbt?
Sie leuchten blank, betupft mit Blut.

 

Spannend auch, dass Meyer mehrere Fassungen dieses Textes geschrieben hat, und die ersten davon in Reimstrophen verfasst waren; am Ende stand dann aber der ungereimte, unstrophische iambische Vierheber.

Eine Begegnung im Park (8)

Siebter Teil

„Nun gut“, lenkte Heinrich ein, „lassen Sie uns zu den Ereignissen im Park zurückkehren.“

Dr. Sotz wandte sich erst der Bedienung zu, „Noch zwei Tee, bitte!“, dann wieder seinen Unterlagen. „Was fehlt denn noch … Ach ja, die Kanone. Wissen Sie, Heinrich, je länger ich darüber nachdenke, desto verdächtiger erscheint mir diese kleine Einzelheit unseres Abenteuers!“

„Wieso?“, fragte Heinrich. „Der Bezug zu Klopstock ist doch klar: Er hat drei Jahre in Dänemark gelebt, und die Geschützbedienung stammte offensichtlich aus Dänemark …“

„Sicher, sicher. Aber die Frage ist doch: „Warum ist die Kanone aufgetaucht? Warum überhaupt, und warum in diesem Augenblick?!“

Heinrich runzelte die Stirn. „Gute Frage … Irgendein fernes Echo auf Gewalt in Klopstocks Schriften?

Posaunrufen der Heerlager, die ernstanbetend
Fortzogen, umscholl wehdrohend der Palmstadt Türme;“

„Der Todstag kam dunkel“, führte Dr. Sotz das Zitat fort, während er die bestellten Tee annahm und bezahlte,

„und des Herrn Heer zog
Und es sank fürcherlich aufdonnernd Jericho!

Ja, ich kenne die Strophe … Aber nein, zu wenig, zu harmlos. Inzwischen glaube ich auch gar nicht mehr, der Schuss galt uns; sondern ganz gezielt der Mütze des Parkwächters!“

„Hm, ‚gezielt‘ nicht nur im Sinne von ‚Kimme und Korn‘, sondern in Sinne eines planenden Willens?! Dr. Sotz, jetzt lassen Sie Ihrer Vorstellungkraft aber die Zügel allzu locker.“

„Vielleicht. Aber denken Sie außerdem an den Klopstock-Kopf. War es wirklich reiner Zufall, dass uns das Gesicht zugewandt war und wir nicht den Hinterkopf gesehen haben?!“

Heinrich war einen Augenblick lang sprachlos. „Warten Sie … das bedeutete ja, zuerst ist wer oder was auch immer auf Ihren Roboter aufmerksam geworden, als Sie ihm im Park das Dichten beibringen wollten. Die Möglichkeit, mit dem Roboter in Verbindung zu treten, wurde dann genutzt, um erst Sie, dann mich neugierig zu machen; wir begannen zu forschen …“

„… und haben gefunden! Und in dem Augenblick, als uns der Parkwächter auf die Pelle rückte, erschien die Kanone und lenkte ihn ab; danach brach, vielleicht unabsichtlich, das Licht hervor und zerstörte alle Hinweise – bis auf den einen, den es dann doch noch zu geben verstand!“

„Aber das heißt dann ja auch, unser kleines Abenteuer ist noch nicht wirklich zu Ende?“

„Wohl kaum. Ich weiß noch nicht genau, wie wir am besten weiter vorgehen, aber wahrscheinlich ist es am geschicktesten, wir teilen uns auf; Sie werden auf den Spuren Klopstocks wandeln, und ich werde mich der Homunkulus-Herstellung widmen … und noch einmal ganz genau die Schaltkreise meines kleinen Freundes hier durchforsten!“

Grimmig schaute Dr. Sotz auf seinen Spielzeugroboter, doch der blickte so unschuldig drein, wie ein Spielzeugroboter nur unschuldig dreinzublicken vermag.

Neunter Teil

Das Ein-Vers-Gedicht (14)

Beim Übersetzen von Versen macht man sich unweigerlich unglücklich – tut man dem Inhalt Genüge, geht das nur unter Abstrichen bei der Form, versucht man aber, der Form zu genügen, verbiegt sich der Inhalt!

 

Parturient montes, nascetur ridiculus mus.

 

Das ist ein ziemlich bekannter Hexameter von Horaz, der, da jeder die Geschichte kennt, für sich allein stehen kann und gemeinhin so übersetzt wird:

 

Es kreißen die Berge, geboren wird eine lächerliche Maus.

 

Was ja auch passt, nur: der horazsche Hexameter ist so vollständig verloren gegangen …

Versucht man, den zu erhalten, und das meint dann ja auch den einigermaßen unüblichen Gleichklang am Schluss samt des einsilbigen Schlussworts, liest sich das so:

 

Schauet den kreißenden Berg, wie er aufschwillt! Komm doch heraus, Maus.

 

Jedenfalls in der Übersetzung von Johann Heinrich Voss. Da ist es sicher ein Hexameter, und der Versschluss ist nachgebildet, mit Gleichklang und allem; aber dafür hat der Inhalt heftig leiden müssen!

Tja: Wie man’s macht, macht man’s falsch.

Erzählverse: Der Knittel (14)

In Goethes „west-östlichem Divan“ findet sich auch „Geständnis“:

 

Was ist schwer zu verbergen? Das Feuer!
Denn bei Tage verrät’s der Rauch,
Bei Nacht die Flamme, das Ungeheuer.
Ferner ist schwer zu verbergen auch
Die Liebe; noch so stille gehegt,
Sie doch gar leicht aus den Augen schlägt.
Am schwersten zu bergen ist ein Gedicht;
Man stellt es unter’n Scheffel nicht.
Hat es der Dichter frisch gesungen,
So ist er ganz davon durchdrungen.
Hat er es zierlich nett geschrieben,
Will er, die ganze Welt soll’s lieben.
Er liest es jedem froh und laut,
Ob es uns quält, ob es erbaut.

 

– Da bietet Goethe wieder einmal alles auf, was einen Knittel ausmacht, vor allem  die freie Verteilung von unbetonten Silben, insbesondere im Verseingang, der mal betont, mal unbetont ist.

Auch die Unklarheit bezüglich der Bewegungslinie eines Verses ist da – wie klingt zum Beispiel der Schlussvers?! Im schlichten „Auf und Ab“ käme er schwach daher – mir scheint diese Lesung kräftiger:

Ob es uns quält, ob es erbaut.
X x x X || X x x X

So ein „doppelter Choriambus“ setzt doch einen wunderbar deutlichen, hörbaren Schlusspunkt?!

Auch vernehmbar ist  die eine oder andere Härte im Satzbau; und der Paarreim, obwohl ja ein Kreuzreim das Gedicht einleitet.

Bemerkenswert auch, wie, sobald als drittes Beispiel das Gedicht genannt wird, ganz streng jedes Reimpaar einen Satz fasst!

Und inhaltlich? Da hat er recht, der Goethe; wie so oft …

Ohne Titel

„Wo bist du, Vers?“ „In deinem Kopf.“ „Tritt vor!“ „Ich hänge fest,
Bis Wirklichkeit mir Körper wird und Geist mich tanzen lässt.“

Erzählformen: Das Reimpaar (16)

2002 ist bei Hanser „So und nicht anders“ erschienen, ein Gedichtband mit „ausgewählten und neuen Gedichten“ Günter Kunerts. Das ist schon an sich ein lesenswertes Buch mit vielen guten und bedenkenswerten Texten; darüber hinaus finden sich aber auch einige in iambischen, vierhebigen Reimpaaren verfasste Gedichte darin! Eines von ihnen, ein kurzes und recht bekanntes,  steht auf Seite 85:

 

Bruder Kleist

Legendenlast: du trägst sie schwer.
Du ahnst zuviel. Und wagst nichts mehr.
Die Welt verläuft. Du bist allein.
Und bist zugleich der Widerschein
von einem längst verwehten Geist
von dem du nur den Namen weißt.
Ein deutsches Schicksal: Was da tönt
ist stets ein Schuss. Bleibt unversöhnt.

 

– Rein von der Form, von der Bewegung her ein eindrücklich aufgebautes Gedicht?! Zuerst werden die Vierheber als solche gar nicht vernehmbar, zu tief schneidet die Zäsur genau in der Versmitte und lässt den Vers eher wie ein Paar von Zweihebern erscheinen; und das über die ersten drei Verse hinweg! Dann aber, mit dem zweiten Vers eines Reimpaars & wieder über drei Verse: Satz und Nebensatz, der eine füllt zwei Verse, der andere einen – ein weiter Bogen, ein scharfer Gegensatz zu den kleinen Schritten der ersten drei Verse. Und zum Schluss wieder zwei scharf zäsurierte Verse, einmal ist die Zäsur um eine Silbe nach hinten verschoben; dann aber fällt der Schlussvers wieder ins Muster des Einstiegs: Zwei knappe Sätze, beide noch auf den Vorvers bezogen, die den Vers genau in der Mitte spalten.

Ein wirkungsvoller Aufbau!? So ähnlich klingt auch noch ein anderes Gedicht der Sammlung, „Kleinstadt“ (S. 97), auch wenn der Gegensatz zwischen „Stocken“ und „Strömen“ dort nicht ganz so ausgeprägt ist.

Eine Begegnung im Park (7)

Sechster Teil

„Sie schon wieder“, seufzte Ursula Fürchtegott.

„Ich schon wieder“, bestätigte Dr. Sotz der Leiterin des Stadtarchivs und wies auf den Spielzeugroboter, den er sich unter den linken Arm geklemmt hatte. „Diesen kleinen Burschen kennen Sie ja schon, und das hier“ – er deutete auf den neben ihm stehenden Heinrich – „ist ein Freund, mit dem zusammen ich Dinge erlebt habe, die aufzuklären ohne Ihre Hilfe nicht möglich ist!“

Ein zweiter Seufzer. „Wie immer also. Na gut, bringen wir’s hinter uns – was brauchen Sie?“

Dr. Sotz entrollte eine lange Liste, räusperte sich; und trug vergnügt deren Inhalt vor.

Einen mühseligen Arbeitstag später verließen Dr. Sotz und Heinrich das Archiv, suchten Dr. Sotz‘ nahegelegene Junggesellenwohnung auf und verbrachten einen Großteil der Nacht mit dem Versuch, aus dem erworbenen Wissen ein schlüssiges Bild zu gewinnen; nach einigen wenigen Stunden Schlafs kehrten sie dann ins Archiv zurück, um noch einige Einzelheiten zu überprüfen. Mittags schließlich wanderten sie zum Markt-Cafe, wo sie trotz des dem Markttag geschuldeten Gedränges einen Tisch bekamen, einen grünen Tee bestellten und tranken; und schließlich daran gingen, die Bausteine des Rätsels endgültig zusammenzusetzen.

„Also“, begann Dr. Sotz und blätterte in seinen Unterlagen. „Wir haben Anfang des 16. Jahrhunderts einen Alchimisten, Adalbert von Schönburg.“

„Der hatte, geheimniskrämerisch wie alle Alchimisten, ein Haus weit vor der Stadt auf einem Gelände, das bald danach von der wachsenden Stadt verschluckt worden ist; der heutige Stadtpark“, nahm Heinrich den Faden auf.

„Genau. Beschäftigt hat er sich mit …“, Dr. Sotz schlug um, „… der Vorstellung eines künstlichen Menschen; er wollte einen Homunkulus erschaffen. Den damaligen Chroniken und Gerichtsakten zufolge war er dabei ziemlich erfolgreich und hatte viele der benötigten Stoffe bereits hergestellt, als er angeklagt, verurteilt und anschließend verbrannt wurde. Seine Chemikalien und Gerätschaften beließ man im Keller seines Hauses, der aber vermauert und versiegelt wurde.

Ende des 18. Jahrhunderts wurde das verfallende Gebäude dann vom Raubdrucker Peter Marteau als Lagerraum benutzt. Er verspekulierte sich, als er eine größere Menge an Klopstock-Bänden druckte zu einer Zeit, als Klopstocks Ruhm schon im Schwinden war; und darauf sitzen blieb und pleite ging. Da inzwischen die Kellerdecke an einer Stelle eingebrochen war, wurden die Bücher kurzerhand zur Auffüllung des darunter liegenden Hohlraums verwendet.“

„Hohlraum“, sagte der Spielzeugroboter.

„Danach“, Dr. Sotz ließ sich nicht stören, „verfiel das Haus endgültig und wurde abgerissen. So weit, so bekannt. Über die wirklich entscheidenden Dinge wissen wir aber immer noch nichts: Was geschah in all den langen Jahren in der Finsternis des Kellers, wie verbanden sich die Stoffe, die einen künstlichen Menschen ergeben sollten, mit den Worten des größten Dichters der Empfindsamkeit, dessen Gedichte vor Gefühl überquellen und denen die Kraft der sprachlichen Bewegung so wichtig ist? Wie konnte aus jahrhundertealten Pasten und Pülverchen, die sich auf die Seiten vermodernder Gedichtbände schmierten, das werden, was wir im Stadtpark gesehen haben? War es einfache Chemie, oder doch eine Art Wort-Homunkulus?!“ Er schlug auf den Tisch, dass die Teetassen klirrten. „Ich muss es wissen!“

„Dr. Sotz, beruhigen Sie sich doch!“, verlangte Heinrich. „So langsam hege ich den Verdacht, die Vorstellung eines Homunkulus ist für Sie nicht wirklich das Hirngespinnst, das es sein sollte?“

Dr. Sotz wich Heinrichs strengem Blick aus. „Alles, was ich will, ist: die ganze Sache verstehen. Was dabei Hirngespinst ist und was nicht, wird sich zeigen!“

„Stichwort“, meldete sich der Spielzeugroboter noch einmal zu Wort.

Achter Teil