Erzählverse: Der trochäische Vierheber (43)

Adolf Peters 1840 erschienene „Gesänge der Liebe“ sind ein Buch, das heute niemand mehr zu kennen braucht – zu unbedeutend sind die darin versammelten Liebesgedichtlein. Ein, zwei Stücke sind aber doch ganz anziehend, zum Beispiel „Der Besiegte“:

 

Heldin, Heldin, nicht so grausam!
Weit zerstreut sind meine Streiter,
Meine Schlacht ist längst verloren,
Und ich blute, schwer verwundet,
Auf dem Felde deines Ruhmes,
Deiner Locken goldne Fahne
Flog, ein Adler, vor den Siegen,
Deiner Stimme Zauberschwert schlug
Mir die Sinne, die Gedanken;
Plötzlich die Gefahr erleuchtend,
Streckte jähling mich darnieder
Deiner Blicke Speergefunkel,
Und mein Herz, der junge Feldherr,
Ging verrät’risch zu dir über.
Heldin, Heldin, nicht so grausam!
Neig dich über mich, zu träufeln
In die schmerzensheiße Wunde
Die drei Tröpfchen himmlisch mildes
Lebensöl: „Ich liebe dich!“
Und die Binde deiner Arme
Leg um den zerriss’nen Busen.

 

Eine Tonlage, die man nicht in der Mitte des 19. Jahrhunderts erwarten würde, sondern eher hundert Jahre früher?! Aber die Verknüpfung von „Schlacht“ und „Liebe“ / „Äußeres“ ist nett gemacht, die Sprache bewegt sich frei und ansprechend im Raum der trochäischen Vierheber; und so lässt man sich’s gefallen, auch noch am Anfang des 21. Jahrhunderts …

Bücher zum Vers (73)

J.R.R. Tolkien: König Arthurs Untergang. Herausgegeben von Christopher Tolkien

Gerade eben ist die deutsche Ausgabe von The Fall of Arthur  erschienen, bei der Hobbit Presse / Klett-Cotta. Ein „Buch zum Vers“ ist sie, weil das unvollendet gebliebene Gedicht in Stabreimversen geschrieben ist; und jeder Stabreimvers-Text einen genauen Blick wert ist angesichts der wenigen, die heutzutage geschrieben werden!

Den größten Teil des Buches nehmen die sehr spannend zu lesenden Erklärungen und Erläuterungen Christopher Tolkiens ein; das eigentliche Gedicht umfasst selbst in der Gegenüberstellung des englischen Textes mit der deutschen Übersetzung nur knapp achtzig Seiten.

Dabei ist diese zweisprachige Anordnung sicher sinnvoll. Hans-Ulrich Möhring hat beim Übersetzen die alte Frage zu entscheiden gehabt, ob er dem Inhalt möglichst treu bleibt und die Form vernachlässigt oder umgekehrt, und sich zugunsten der Form entschieden; da ist dann der Blick auf die gegenüberliegende Seite, hin zum englischen Text, immer eine angenehme Versicherung.

 

In the South from sleep ⋅ to swift fury
a storm was stirred, ⋅ striding northward
over legues of water ⋅ loud with thunder
and roaring rain ⋅ it rushed onward.
Their hoary heads ⋅ hills and mountains
tossed in tumult ⋅ on the towering seas.

Aus Schlummer schlug um ⋅ zu schleunigem Toben
ein Wetter und wallte ⋅ weit übers Meer,
es sauste von Süden ⋅ wie besessen nach Norden
mit brüllendem Donner ⋅ und brausendem Regen.
Wutentbrannt warfen ⋅ ihre weißen Kämme
gewaltige Wellen ⋅ in die wühlende See.

 

– So beginnt auf Seite 52 (Englisch) beziehungsweise Seite 53 (Deutsch) der dritte Gesang; ich denke, da kann man sich schon ein Bild machen bezüglich der Art der Übersetzung?! Und auch der Art der Verse, selbstredend …

Aus den vielen Seiten Erläuterungen führe ich nur ein kurzes Wort von Tolkien selbst an, der im „Anhang A“ zu Wort kommt in Form eines Vortrags zur altenglischen Dichtung. Da steht also auf Seite 279:

Unsere Sprache ist mittlerweile leichtbeweglich geworden (in den Silben) und kann sehr flink und flexibel sein, aber lautlich ist sie recht dünn und in ihrer Bedeutung oft diffus und verschwommen. Die Sprache unserer Vorfahren, besonders die dichterische, war langsam, nicht sehr beweglich, aber sehr volltönend und ungemein dicht und konzentriert, jedenfalls die eines guten Dichters.

Da geht es nicht um Deutsch, klar; aber eine nachdenkenswerte Feststellung allemal!

Spätes Sonett

Ich müder Mensch bin noch nicht eingeschlafen.
Warum? Es ist noch kein Sonett geworden …
So werde eins! Ich schlag als Inhalt Horden
Von Breitmaulfröschen vor. Die Frösche trafen,

Wie es der Zufall will, in einem kleinen Hafen
Zwölf Störche an, die aus dem fernen Norden
Just angekommen waren. Und ein Morden
Schien unvermeidlich, doch gelangs den Schafen,

Das meint in diesem Fall: den Wollpiraten,
Die saßen auf der Reling ihres Schiffes,
Durch das Erzählen lustiger Geschichten

Von ihren Fahrten und verwegnen Taten,
Zum Beispiel der Geburt des Nudel-Riffes,
Die Streiterei von Frosch und Storch zu schlichten.

Erzählverse: Der Hexameter (101)

Im Hinterzimmer des Verserzählers hat sich ein weiterer Hexameter-Text eingefunden: Der bezauberte Teufel von Johann Heinrich Voß, eine „orientalische Idylle“. Hat die klassische, antik geprägte Idylle eher Hirten, Faune und Nymphen zum Personal, treten hier zwei Teufel auf, Lurian und Puhx, wobei Lurian Puhx aus einer misslichen Lage rettet und dabei mit Speis‘ und Trank versorgt:

 

Gut! – Da koste das Stück von der Klapperschlange mit Schierling
Und die gebratene Kröte mit einer Tunke aus Asa.
Sieh, wie der Teufel schmackt, und die rauen Ohren beweget!
Und wie die Nas ihm schnaubt, und der Saft aus dem Maule herausläuft!

 

Was man als Teufel eben so zu sich nimmt … (Asa meint Asant, auch Stinkasant oder Teufelsdreck: eine im Irak, in Afghanistan und in Pakistan heimische Pflanze.) Vom Versbau her sind die Verse, wie man sie von Voß erwartet: Antikisierend. Das heißt aber nicht, dass sie ohne Reiz sind – im Gegenteil! Manches klingt heute nicht mehr recht brauchbar, aber andere Verse, wie zum Beispiel die vier angeführten, wirken durch ihre Lebendigkeit und Anschaulichkeit, die sich beide eben auch in der Versbewegung ausdrücken.

Erzählverse: Der Blankvers (60)

In Gerhart Hauptmanns 1996 bei Propyläen (wieder) erschienenen „gesammelten Werken“  findet sich im vierten Band, „Lyrik und Versepik“, auf Seite 157 der kurze Blankvers-Text „Hylas“:

 

Hylas der Hirte wartet seiner Schafe
im süßen Honigdufte des Hymettos.
Des Hirtenstabes Biegung stützt die Achsel
des schönen Knaben, der in Fernen sinnend
steht, zwischen seinen Fingern eine Wabe,
an der er schlürft. Ist es Apollens Liebling,
einsam verloren in dem Licht des Gottes
und selbst zum Gott erhöht durch seine Liebe?

 

– Keine wirklich ruhigen Verse, auch wenn ein stiller Augenblick gezeigt wird. Zum Ende hin wird die Sprache etwas schlichter, verglichen etwa mit dem Genitiv des ersten Verses; vielleicht liegt es daran, wenn der Text insgesamt einen runden, ausgewogenen Eindruck macht?

Ein schönes Beispiel jedenfalls, wie der Blankvers auch auf eher kleinem Raum wirken kann.

Das Königreich von Sede (69)

Träumenden Blicks, den Kopf auf die Hände gestützt – vom Nordturm
Schaut zu den letzten Bergen hinüber: Schemel, und seufzt nun.
Viele Jahre ist’s her; wie lange stand er schon nicht mehr
Schweigend, und lächelnd! am Rande der Welt.

Schemel im Schoß: die Laute. Sie harrt geduldig des Narren
Sangeskundigen Sinns und der saitenbewegenden Hände.
Heute vielleicht, dass er aufspielt, einsam, den einsamen Himmeln?
Heute vielleicht; doch er weilt noch beim Nichts.

Schließlich reißt ihn zurück aus erinnerungsschwerer Entfernung
Hin zum Schloss, in den Hof, an den Brunnen: verwundertes Quaken
Und ein verärgerter Schrei – die Magd, die den Eimer gefüllt hat,
Sieht den vom Wasser geborgenen Frosch!

Wütend schwingt sie den Eimer, den Plagegeist zu entfernen,
Wasser wirft sich heraus, und es tritt in den Hof aus dem Westturm:
Pritsche, vom Lärm gelockt, und tritt in des wütenden Wassers
Bahn, das ihn trifft; und zur Gänze durchnässt.

Lautes Gelächter – die Knechte, die Wachen auf Turm und Umgang,
Selbst der König, ans Fenster geholt von dem Lärmen im Hofrund,
Lachen, ins Lachen gemischt die wüsten Verwünschungen Pritsches,
Mägdliches Jammern, der Hunde Gebell:

Schemel ergreift die Laute, zur unbeschreiblichen Tonflut
Fügt er Töne hinzu, und die liedererfahrene Stimme
Schließt dem Getümmel sich an, von der Laute treulich begleitet,
Tritt ins Getümmel hinein; und ist fort.

Bücher zum Vers (72)

Brigitte und Dietrich Mannsberger: Homer verstehen

Die Ilias und die Odyssee sind nicht nur an sich wichtige Texte; sie sind auch, zum Beispiel! unabdingbar, will man verstehen, warum der deutsche Hexameter sich so darstellt, wie er sich darstellt, denn er hat sich geformt auch an dem Wunsch und dem Versuch, die Epen Homers im ursprünglichen Versmaß ins Deutsche zu bringen.

„Homer verstehen“, 200 Seiten stark und 2006 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (Darmstadt) erschienen, enthält dementsprechend auch einige Seiten zum Hexameter. Die drei großen Abschnitte sind aber „Das Epos als Ganzes“, „Dichterische Kunst- und Stilmittel“, „Dichtung und Wirklichkeit“. Für den selber Schreibenden ist der mittlere wahrscheinlich der ergiebigste; aber das ganze Buch ist eine gut lesbare, unterhaltsame Hinführung zu Homer, die auf eigentlich knappem Raum eine erstaunliche Menge an Wissen vermittelt. Eine lohnende Lektüre!

Erzählverse: Der Knittel (15)

Von Theodor Storm stammt „Schneewittchen. Eine Märchen-Szene“. Darin wird die bekannte Geschichte erzählt; ich kann also einfach mittendrin einen kurzen Abschnitt rausnehmen und hier vorstellen:

 

Zwergenältester
Schneeweißchen, Königstöchterlein,
Wo ließest du die Pagen dein,
Wo ließest du die Wagen und Rosse,
Wie kamst du von des Königs Schlosse?

Schneewittchen
Ach, ich bin kommen arm und bloß!
Mütterlein schläft in Grabes Schoß;
Der König freite die zweite Frau,
Die schlug mich oft und schalt mich rau;
Schickte mich dann mit dem Jäger zu Walde,
Sollte mich töten auf Berges Halde,
Und der Königin als Zeichen
Sollt’ er mein blutend Herze reichen;
Doch ich bat ihn so lange, so lang‘ auf den Knien –
Da schoss er den Eber, und ließ mich fliehn.

 

Schneewittchen redet dabei die wesentlich unordentlicheren Vierheber?! Die des Zwegenältesten gingen auch als iambische Reimpaare durch; ihre kann man nicht anders wahrnehmen denn als Knittel. Bis zum Schluss hat sich die „Vierhebigkeit“ auch schon festgesetzt im Hörerohr, und so vernimmt er

Und der nigin als Zeichen

und

Doch ich bat ihn so lange, so lang auf den Knien

jeweils als Vierheber, den acht- und den zwölfsilbigen Vers; obwohl beide in anderer Umgebung auch anders aufgefasst werden könnten?!