Das Königreich von Sede (72)

Prinzessin Sofarosa schläft im Schatten hoher Bäume,
Verschläft den heißen Sommertag: erst als die Sonne fort ist,
Erst als vom Tintenfässchen sich der Zecher frohe Stimmen
Zu ihr verirren, wacht sie auf und gähnt, und reckt und streckt sich;
Sie nimmt vom Käse, nippt am Wein, sie schnürt die Wanderschuhe
Und bricht zu ihrer Reise auf – den Königsweg hinunter,
Am Schloss vorbei, man sieht sie nicht; und weiter in die Nacht.

Erzählformen: Das Madrigal (19)

Madrigale haben oft eine leichte, tändelnd-verspielte Note; aber nicht alle madrigalisch aufgebauten Texte klingen derartig! Josef Weinhebers Texte ruhen meist mehr als sie sich bewegen, ein Beispiel dafür ist „Die Badende“, die sich im zweiten Band seiner „Sämtlichen Werke“, erschienen 1954 bei Müller, auf Seite 78 findet:

 

Das Wasser wartete schon grau
der Nacht entgegen. Alles schwieg.
Jedoch im matten Himmelsblau
stand einer Wolke klarer Sieg,
durchsichtig Fleisch und helles Blut:
Wie eine Königin.
Ein Beben ging die Weiden hin,
ganz leis.
Die wunderbare Wolke stieg
in ihrem Abglanz, gliederweiß,
unirdisch, in die Flut.

 

Eindeutig madrigalisch gebaut – freie Anordnung der Reime (allerdings fehlen Waisen), unterschiedliche Verslängen! Trotzdem ein langsamer, getragener, ruhiger Text, was ja durchaus zum Inhalt passt. Zu dieser Schwere tragen sicher auch die ausschließlich betonten Versschlüsse bei.

Erzählverse: Der iambische Siebenheber (1)

Iambische Verse hat der Verserzähler schon einige „im Programm“: Den iambischen Vierheber, den Blankvers (fünfhebig) und den iambischen Trimeter (sechshebig), alle ungereimt; dazu kommen die gereimten iambischen Vierheber des Reimpaars.

Als nächstes in der Liste müsste der ungereimte iambische Siebenheber folgen, und tut es auch! Das ist allerdings ein recht seltener Vers, der so aussieht:

x X / x X / x X / x X || x X / x X / x X

Ein Langvers, der einen Einschnitt braucht, eine Zäsur! Diese ist fest und erfolgt ausnahmslos nach der achten Silbe. Diese Art von Siebenhebern ist oft gereimt, wodurch das Versende gekennzeichnet wird. Endet der Vers dagegen auf eine überzählige unbetonte Silbe, sieht er so aus:

x X / x X / x X / x X || x X / x X / x X / x

– Nur eine unbetonte Silbe mehr, aber für die Versbewegung ist sie von großer Bedeutung! Nun treffen an Versende und Versanfang zwei unbetonte Silben aufeinander, der Übergang von einem in den nächsten Vers wird auch ohne Reim für das Ohr erfahrbar.

Unter Emanuel Geibels „Jugendliedern“ finden sich auch einige „Neugriechische Volkslieder“, und zu diesen zählt „Das Kraut Vergessenheit“:

 

Es hat die Mutter mir gesagt, dort hinter jenem Berge,
Der Wolken um den Gipfel hat und Nebel um die Wurzel,
Dort wächst das Kraut Vergessenheit, dort wächst es in den Schluchten.
O wüsst‘ ich nur den Pfad dahin, drei Tage wollt‘ ich wandern
Und wollte brechen von dem Kraut und wollt’s im Weine trinken,
Damit ich dich vergessen könnt‘ und deine falschen Schwüre
Und deine Augen, die so oft von Liebe mir gesprochen,
Und deinen süßen, süßen Mund, der tausendmal mich küsste!

 

Keine große Dichtung, aber wie von Geibel gewohnt: Sichere Verse, die den Grundaufbau und die Grundbewegung des jeweiligen Maßes gut erkennen lassen!

Erzählverse: Der Hexameter (104)

Im zweiten Gesang von Goethes „Hermann und Dorothea“ findet sich dieser berühmt gewordene und viel besprochene Vers:

 

Ungerecht bleiben die Männer, und die Zeiten der Liebe vergehen

 

Berühmt geworden ist er aber nicht wegen seines Inhalts, sondern aufgrund seines fehlerhaften Baus. Der blieb nicht unentdeckt, aber als Goethe auf eine zusätzliche betonte Silbe angesprochen wurde, entgegnete er lachend: „Die siebenfüßige Bestie möge als Wahrzeichen stehenbleiben!“

Da stellen sich dann gleich mehrere Fragen: Als Wahrzeichen wofür? Und vor allem, unter dem Gesichtspunkt des Versbaus betrachtet: Warum siebenfüßig?! Klar ist, der Vers hat eine Silbe zuviel; aber statt durch sie einen zusätzlichen Versfuß in den Vers zu bringen, was die Grundbewegung des Hexameters doch stark verändert, kann man sie auch in einer Senkung verschwinden lassen:

Ungerecht / bleiben die / Männer, || und die / Zeiten der / Liebe ver- / gehen

X x x / X x x / X x || x x / X x x / X x x / X x

– Und das ist eigentlich ein tadelloser Hexameter, die zusätzliche Silbe ist kaum vernehmbar, da die drei unbetonten Silben durch die Zäsur getrennt werden?!

In der Handschrift hat Goethe gleich mehrere solcher Verse, die dann im Druck in verbesserter Gestalt erscheinen, so zum Beispiel: 1,192:

Handschrift: Immer erschien er mir herrlich und erhub mir Sinn und Gemüte

Druck: Immer schien er mir groß, und erhob mir Sinn und Gemüte

Wo neben der metrumswidrigen („groß“ statt „herrlich“) gleich auch noch eine unbedenkliche unbetonte Silbe getilgt wurde („schien“ statt „erschien“), was den Bewegungsbogen des Verses aber viel stärker beeinflusst?!

Ein anderes Beispiel (6, 50):

Handschrift: Jeder sann nur, im Herzen die Beleidigung alle zu rächen

Druck: Jeder sann nur und schwur, die Beleidigung alle zu rächen

Hier scheint die Abweichung von Hexameterton etwas stärker, und erst mit der Verbesserung bildet er sich klar und kraftvoll aus!

Jedenfalls: Wer, aus Absicht oder aus Versehen, in seinen eigenen Versen einmal eine dreisilbige Senkung in der Mitte des Verses stehen hat, durch die Zäsur unterteilt: kann sich durchaus überlegen, sie dort stehenzulassen. Das muss seltene Ausnahme bleiben, klar; aber als solche erweitert sie den Spielraum für Abwechslungen in der Grundbewegung, und das ist für den Hexameter eine wichtige Sache …

Und wenn dann doch jemand kommt und Anstoß nimmt an dem Vers, kann man es Goethe gleichtun; und darüber lachen!

Erzählverse: Der Blankvers (62)

Immer mal wieder liest man einen Text, in dem ein Witz „verreimt“ wird. Das endet so gut wie immer im Elend – ein Gedicht ist etwas ganz anderes als ein Witz, und Reime machen aus einem guten Witz kein gutes Gedicht, sondern einfach nur einen schlechteren Witz (weil die unbarmherzige Kürze aufgegeben wird zugunsten eines Gleichklanggeklingels, das diesem Grundgedanken des Witzes völlig zuwiderläuft).

„Einfach so“ lässt sich eigentlich gar nichts in Verse fassen?! „Der Engel des Todes“ von Sophie Mereau-Brentano liest sich so:

 

An Salomon dem großen Weisen ging
Der ernste Todesengel sichtbarlich
Vorüber einst, und richtete den Blick
Auf einen Mann, der nahe bei ihm stand.
Wer ist der, fragte dieser Salomo,
Der Engel mit dem furchtbar ernsten Blick?
Der Todesengel, sagte Salomo.
Es scheinet mir, versetzte jener, dass
Er mein bedarf; o, so befiehl drum schnell
Dem Winde, dass er weit aus seinem Blick
Nach Indien mich bringe. Es geschah.
– Und drauf zu Salomo der Engel spricht:
Verwundert sah ich ernst auf diesen Mann,
Denn seine Seel‘ in Indien von ihm
Zu nehmen, war befohlen mir, und hier
In Palästina traf ich ihn bei dir.

 

Hm. Wenn das gutgegangen ist, wenn die alte Geschichte hier wirklich Gedicht geworden ist: dann gerade eben so.

Ohne Titel

In mir hat sich die Zeit empört, der Stunden Zorn bin ich,
So dachte ich, und dachte auch: Du machst dich lächerlich.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (45)

Eine Fliege in einer Flasche

Sahst du denn in einer Flasche
Niemals eine Fliege flattern,
Die sich durch die enge Mündung
In das Glas verflogen hatte?
Nun, so wirst du auch begreifen,
Wie die kleinen Liebesgötter
Es in meinem Herzen treiben.
Durch die offnen Augen haben
Sie sich da hinab gestohlen,
Aber schon wird es darinnen
Ihnen viel zu eng und bange,
Und sie flattern so unbändig,
Dass ich Tag und Nacht vor ihnen
Keine Stunde Ruhe habe.

 

– Kann man heute nicht mehr schreiben, ich weiß. Schade eigentlich! Die Selbstverständlichkeit und Gelassenheit, mit der Wilhelm Müller hier „aus Nichts Etwas macht“, stünde manch heutigem Text ganz gut zu Gesicht, dessen „Etwas-Gelten-Wollen“ dem Leser und dem Hörer oft unangenehm aufstößt … Wie ein solcher Text im 21. Jahrhundert aussehen könnte, das bliebe dann freilich noch zu ergründen!

Bücher zum Vers (75)

Ulrich Hötzer: Mörikes heimliche Modernität.

In diesem 1998 bei De Gruyter erschienenen Band findet sich vieles lesenswertes, ich möchte aber vor allem hinweisen auf „Grata negligentia“ – „Ungestiefelte Hexameter“? Bemerkungen zu Goethes und Mörikes Hexameter. Da gibt es auf über 30 Seiten nicht nur sehr viel über Goethe und Mörike zu erfahren, sondern vor allem ungemein wissenswertes über den Hexameter an sich. Wer sich mit diesem Vers beschäftigt, sollte Hötzers Text unbedingt lesen! Er ist zum allergrößten Teil auch im Netz einsehbar: Hier.

Beide Dichter haben ein sicheres Gespür für das rein Epische des Hexameters. Mit stets gleichbleibender Gebärde stellt dieser Vers, unendlich gereiht, Welt vor den Leser oder Hörer hin, und der gleichartige, aber nie identische Rhythmus spricht stets dieselbe Bewusstseinsebene an: aus dem Abstand betrachtende Anteilnahme. Das wird noch deutlicher, wenn wir den stichischen Hexameter mit dem elegischen Distichon vergleichen, wo der beruhigende Fluss des Hexameters durch den Gegenschlag des Pentameters unterbrochen wird. Der ständige Wechsel von gelassener Betrachtung und erregter Anteilnahme schafft im Hörer eine andersgeartete, intensivere Bewusstseinslage, eine Art „gebrochener Anschauung“. Das Distichon bildet Welt und reflektiert sie zugleich im Fühlen oder Denken. (…) Der Hexameter dagegen stellt dem Hörer Welt gegenüber als reine, ungemischte und ungebrochene Gegenwart.

– Eine meiner Lieblingsstellen (auf den Seiten 75 und 76 zu finden), die ich seit Jahren bei passenden (und wahrscheinlich auch weniger passenden!) Gelegenheiten anzuführen pflege … Aber ich denke halt, Hötzer hat sehr Recht mit dem, was er da schreibt, und ein sicheres Verständnis dieser „Wesensmerkmale“ hilft beim eigenen Schreiben unbedingt!