Erzählverse: Der Hexameter (116)

In „Die Versuche und Hindernisse Karls“, dem in (115) erwähnten Roman, wird nicht nur Johann Heinrich Voß parodiert; Jean Paul erfährt dasselbe Schicksal! Der hat nun mit dem Hexameter nicht viel zu schaffen gehabt; allerdings gibt es in seinem „Schulmeisterlein Wutz“ eine hübsche Stelle, in der immerhin die Rede ist vom Hexameter:

Unter dem Kaffee schnitt er sich, außer den Semmeln, die Federn zur Messiade, die er damals, die drei letzten Gesänge ausgenommen, gar aussang. Seine größte Sorgfalt verwandte er darauf, dass er die epischen Federn falsch schnitt, entweder wie Pfähle oder ohne Spalt oder mit einem zweiten Extraspalt, der hinausniesete; denn da alles in Hexametern, und zwar in solchen, die nicht zu verstehen waren, verfasset sein sollte: so musste der Dichter, da er’s durch keine Bemühung zur geringsten Unverständlichkeit bringen konnte – er fassete allemal den Augenblick jede Zeile und jeden Fuß und Pes –, aus Not zum Einfall greifen, dass er die Hexameter ganz unleserlich schrieb, was auch gut war. Durch diese poetische Freiheit bog er dem Verstehen ungezwungen vor.

„Den Augenblick“ = „augenblicklich“?! Jedenfalls eine Verfahrensweise, die für die Jetztzeit zu bewahren sich vermutlich lohnen würde …

Erzählverse: Der Hexameter (115)

Johann Heinrich Voß hatte seine eigenen Vorstellungen vom Hexameter, für die er von vielen bewundert wurde. Einerseits. Andererseits wurde er deswegen auch verspottet!

„Die Versuche und Hindernisse Karls“ ist ein etwas wunderlicher, 1808 erschienener Roman von gleich vier Verfassern – Karl August Varnhagen von Ense, Wilhelm Neumann, August Ferdinand Bernhardi und Friedrich de la Motte Fouqué -, in dessen 15. Kapitel „Focks“ auftritt, „ein junger Mann; er zeigt ungemein viel Neigung zur Poesie, die er aber sehr komisch äußert“, wie es dort heißt. Focks, lies: Voß soll eine in Versen verfasste Einladung an einen Freund schreiben.

„Gehorsam setzte Focks sich nieder und vollendete nach wenigem Käuen der Feder in wirklich bewundernswürdig kurzer Zeit folgende Verse:

Striezelmeier, im Wald hinrieselet flüchtige Quellflut,
Im Fortlaufe genannt von dem Bauernvolke der Sumpfbach,
Weil ringsum stankhauchend Gesümpf in den Feldern ihn aufnimmt,

Die ganze Gesellschaft bewunderte und lobte den äußerst künstlichen Versbau und die Kürze der Zeit, die Focks auf sein Gedicht verwandt.“

Derart schräge Verse schreiben sich nicht „einfach so“;  da muss schon Absicht dahinterstecken … Das Gedicht ist, wie die „drei Punkte“ andeuten, länger; aber ich belasse es bei den drei Anfangsversen. Sie machen hinreichend deutlich, wie unglücklich Hexameter nach den vossischen Vorstellungen klingen können, wenn diese im Dienste der Parodie übersteigert und gehäuft werden!

Mit Versen erzählen!? (7)

Auf Youtube findet sich manches. Zum Beispiel: Die Ilias, 1. Gesang (Ausschnitte). Wird diese Lesung dem Urepos schlechthin gerecht? Ich finde, kaum. Im besonderen die wörtliche Rede (ab 0:30) scheint unglaubwürdig – aber warum?! August Wilhelm Schlegel schreibt in „Vom Epos“ über die epische Erzählung:

Sie sucht durch Anschaulichkeit, aber nicht durch Verstärkung und Übertreibung zu wirken, und endlich nimmt sie zwar die Reden der handelnden Personen in sich auf, aber nicht so, dass der Erzähler sich ganz in diese versetzte und sich selbst darüber verlöre, sondern er bildet sie zur Gleichartigkeit mit den übrigen Teilen der Erzählung um.

Der Vortragende aber verstärkt und übertreibt, er versetzt und verliert sich; und zwingt so die epische Sprache in einen Rahmen, in dem sie gänzlich fehl am Platze wirkt, und sogar ein wenig lächerlich.

Erzählverse: Der Hexameter (114)

Über keinen anderen Vers ist so viel geschrieben und gestritten worden wie über den Hexameter. Was auffällt beim Lesen all dieser sekundärenTexte: Die eindeutigen Aussagen, Gewissheiten und Zurückweisungen stammen eher von den Metrikern, den Theoretikern der Dichtungssprache; die Praktiker scheuen vor solchen Festlegungen meist zurück!

Emanuel Geibel zum Beispiel schreibt in einem Brief an Paul Heyse über dessen „metrische Epistel“ (hier beim Verserzähler besprochen in den Hexameter-Einträgen 73 – 77):

„Es lässt sich doch kaum in Abrede stellen, dass am rechten Orte gerade ein gewisses Widerstreben von Wortakzent und Versakzent den Hexameter rhythmisch zu beleben und ihm einen eigentümlichen Reiz zu verleihen vermag.

Aber es / glänzte der / Stein blut- / rot || am / Knaufe des / Schwertes

scheint mir wenigstens ausdrucksvoller als:

Aber / blutrot / glänzte der / Stein || am / Knaufe des / Schwertes

Hier wird es eben schwer sein, allgemein gültige Regeln aufzustellen, wie denn schließlich über jeden einzelnen Fall nur das rhythmische Gefühl des Dichters entscheiden kann.“

Hier redet also ein Dichter einem anderen Dichter gegenüber dem „geschleiften Spondäus“ das Wort – „Stein blut / rot“ -, den man hier wie meistens am besten mit „schwebender Betonung“ liest, also alle drei Silben gleichstark betont; und gleichlang vorgetragen?! Das spannende ist aber das Zurückweisen „allgemein gültiger Regeln“!

Und damit ist Geibel wie gesagt keineswegs allein: Eduard Mörike etwa schrieb an Wilhelm Hartlaub anlässlich der Überarbeitung seines „Märchens vom sichren Mann“, vor der er Johann Heinrich Voss‘ „Zeitmessung der deutschen Sprache“ gelesen hatte:

„Doch sind mir manche Zweifel übrig geblieben, und im Ganzen finde ich: man kommt zuletzt am weitesten, wenn man in allen Fällen sein eigenes Gehör befragt.“

 

Aber da deucht es ihm Nacht, dickfinstere; wo er umhertappt,
Nirgend ist noch ein Halt und noch kein Nagel geschlagen,
Anzuhängen die Wucht der wundersamen Gedanken,
Welche der Gott ihm erregt in seiner erhabenen Seele;

 

Vier Verse aus dem „sichren Mann“, die zeigen, Mörike ist in der Tat weit gekommen; und der erste ein schönes Beispiel dafür, was Geibel den „rechten Ort“ nennt für einen geschleiften Spondäus!

Grottige Auskunft

Sehen Sie, die Nacht ist dunkel,
Sagt der Grottenolm und kratzt sich
Dünnen Arms den augenlosen
Schädel, und der Tag desgleichen.
Sagt’s; und wedelt mit den Händen,
Wenigfingrig, die Besucher
Seiner Höhle zu verweisen.

Mit Versen erzählen!? (6)

Hat man die – in (5) vorgestellten – Spittlerschen Begriffe „Verstandeslogik“ und „Bildlogik“ erst einmal zur Kenntnis genommen samt ihrer Bedeutung für das Erzählen, fangen sie schnell an, ein Eigenleben zu führen und sich an alle möglichen anderen Inhalte anzuschließen. Zum Beispiel an den Anfang eines Briefes, den Schiller Ende 1797 an Goethe geschrieben hat, eben zu der Zeit, als er die Prosafassung seines „Wallenstein“ in Blankverse umgeschrieben hat:

 Ich habe noch nie so augenscheinlich mich überzeugt, als bei meinem jetzigen Geschäft, wie genau in der Poesie Stoff und Form, selbst äußere, zusammenhängen. Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetisch-rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz andern Gerichtsbarkeit als vorher; selbst viele Motive, die in der prosaischen Ausführung recht gut am Platz zu stehen schienen, kann ich jetzt nicht mehr brauchen; sie waren bloß gut für den gewöhnlichen Hausverstand, dessen Organ die Prosa zu sein scheint; aber der Vers fordert schlechterdings Beziehungen auf die Einbildungskraft, und so musste ich auch in mehreren meiner Motive poetischer werden.

Eine „ganz andere Gerichtsbarkeit“ also, und „Beziehungen auf die Einbildungskraft“, die „der Vers fordert“: Das ist von Spittelers Anmerkungen gar nicht so sehr weit weg?!

Erzählverse: Der Blankvers (67)

Christian Friedrich Scherenberg erlangte einige Bekanntheit mit Epen über die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens noch nicht allzu ferne napoleonische Zeit: „Waterloo“ (1849), oder auch „Abukir. Die Schlacht am Nil“ (1855). Daraus einige Verse, die zeigen, wie sich denn der Blankvers auf See bewährt; bei den Vorbereitungen auf die Schlacht, genaugenommen …

 

Noch einmal überschaut von seiner Höhe
Der Admiral den Halbmond seiner Flotte,
Des Hörnerspitzen fern im Dunst zerflossen.
Dann hob er wieder den gesenkten Stab,
Und winkte: „Fertig zur Aktion!“ Und rauschend,
Wie wenn das Drama auf den engen Brettern
Beginnen soll, der Vorhang aufrollt, rollt
Herab die Segelwand, und schwirrend, wie
Am Webstuhl, fliegt von Hand zu Hand die Arbeit
Auf knappem, straff umsponnenen Verdeck:
Gerefft wird, was losbändig, ausgehändet
Das Pulver, das Geschütz geladen, los
Gemacht die Taljen, durchgeholt das Stück,
Geöffnet sind die Luken, die Lunte brennt,
Der Stückmatrose tritt an seine Kanone,
Der Arzt legt aus sein Wundzeug – still ist alles.

 

Aber nicht lange … Na, worauf es ankommt: Ich finde, das kann man lesen (die Probe ist, wie immer, der eigene, laut gesprochene Vortrag), mitsamt der manchmal heftigen Zeilensprünge und der nicht immer klaren Wechsel zwischen den Zeiten. Die Verse werden als Verse erfahren; das allein zählt!