Erzählformen: Der Zweiheber (23)

Guido Eckardts „Träumende Herzen“ ist – man sehe mir das harsche Wort nach – ein vollkommen bedeutungsloses Gedicht. Ein großes Wort, „Herz“; der Dreischritt „Morgen, Mittag, Abend“ mit anschließendem Schwenk hin zum Tod; und der Reim, der die Strophen lautlich zusammenhält – wenn das alles zusammenkommt, gelingt das Vortäuschen von Sinn gut:

 

Träumende Herzen –
Wer nimmt sie in Acht,
Früh wann der klingende
Morgen erwacht?

Flammende Herzen –
Wer hält sie in Hut,
Rings in der zitternden
Mittagsglut?

Bebende Herzen –
Wer lindert die Pein,
Läuten die Glocken
Den Abend ein?

Schlafende Herzen –
Freundlich bewacht,
Ruhen in stiller
Grabesnacht.

 

– Aber da ist ja auch noch der gewählte Vers, der Zweiheber; und der lässt mit dem nun schon hinlänglich bekannten Verfahren, die unbetonten Silben frei um die beiden betonten Silben jedes Verses anzuordnen, wenigstens ein wenig frischen Wind durch das ansonsten trockene und steife Gebilde wehen!

Ohne Titel

Eigenartig unverständlich
Klingen Verse, wenn sie jemand
Spricht, der ein Stück Käsekuchen,
Frischen, isst, dieweil er redet:
Unverständlich, nahrhaft trotzdem,
Und wer solchem Vortrag beiwohnt,
Weiß vom Hunger wie vom Sattsein.

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (15)

Der Schlaf

Abends klopf ich an das Tor des Schlafs.
Lautlos tut sich’s auf, entgegen huscht mir
Dienerschaft wie Blätterschattenspiel,
Zwitterzeug aus Wolken und Musik.
Ihnen nach zu seiner Tropfengrotte
Tast ich mich und trinke das Willkommen,
Das er beut: ambrosischen Vergessens
Tiefen Trunk aus seinen kühlen Händen.
Früh erwachend find ich statt der staub’gen
Kleider neue, die wie Lilien schimmern.
So entlässt er den erschöpften Wandrer,
Wie ihr Kind die Mutter aus dem Schoße,
Wieder jung, der gastlichste der Götter.

 

„Der Schlaf“ findet sich im fünften Band der gesammelten Werke Ricarda Huchs, erschienen 1971 bei Kiepenheuer & Witsch, auf Seite 270. Es ist ein in seiner Schlichtheit überzeugender Text: Das Bild wird ausgeführt und vor dem Leser ausgebreitet in einer unaufgeregten, manchmal bewusst altertümelnden Sprache („beut“); und der diesem Vorgang innewohnenden Ruhe entspricht der gewählte Vers, der trochäische Fünfheber. Langweilig wird er aber nicht: Satz und Vers fallen manchmal aufeinander, manchmal trennen sie sich und gehen eigene Wege, und der Hörer wird so wie der Leser vor einer zu großen Eintönigkeit bewahrt; wozu auch die drei männlich schließenden Verse am Beginn beitragen.

Erzählformen: Das Distichon (25)

Petrarcas Katze in Arquata

Heil dir, kleines Skelett, das einst die unsterblichen Rollen
Eines unsterblichen Manns gegen die Mäuse geschützt!

 

In Francesco Petrarcas (1304 – 1374) Sterbehaus gibt es tatsächlich eine Katzenmumie zu sehen; es ist aber nicht wirklich Petrarcas Katze, sondern eine Hinzufügung späterer Jahrhunderte, wie man heute weiß. Nichtsdestotrotz hat manch deutscher Dichter, der Petrarcas Grab die Ehre gab, auch diese Katze besucht – und bedichtet! Hier war es August von Platen, der ein formvollendetes (Einzel-)Distichon auf das Tier geschrieben hat: die Sprache fließt wunderbar durch die Form und wird von ihr gehoben und gestärkt!

Die Bewegungsschule (56)

Friedrich Gottlieb Klopstock schreibt in seinen „Gedanken über die Natur der Poesie“:

Die tiefsten Geheimnisse der Poesie liegen in der Aktion, in welche sie unsre Seele setzt. Überhaupt ist uns Aktion zu unserm Vergnügen wesentlich. Gemeine Dichter wollen, dass wir mit ihnen ein Pflanzenleben führen sollen.

Der letzte Satz ist ein Schatz, fraglos. Und heute nicht weniger gültig als vor über 200 Jahren, fürchte ich … Auch wenn man Klopstocks Liebe zur (Sprach-)Bewegung nicht in vollem Ausmaß teilt, anregen lassen sollte man sich:

 

Wie sie herschwebt an des Quells Fall! Mächtiges Getön,
Wie Rauschen in den Nächten des Walds ist ihr Schwung!

 

– Steht in Klopstocks „Unsre Sprache“. Und die Bewegung des ersten Verses …

◡ ◡ — —, ◡ ◡ — —, — ◡ ◡ ◡ —

… beeindruckt wirklich. Sprache ist Bewegung, „Schwung“; das hat niemand besser verstanden als Klopstock, und er hat dieses Wissen auf auch heute noch wirksame und gültige Art in Verse umgesetzt.

Erzählverse: Der Hexameter (137)

Metrische Texte erscheinen oft langweilig. Häufig sind sie es auch; noch häufiger aber geben sie Gelegenheit, mit den Ohren eines anderen Menschen zu hören. Und das wiegt vieles auf!

Karl Philipp Moritz schreibt in seinem 1786 erschienenen, aber auch heute noch mit Gewinn lesbaren „Versuch einer deutschen Prosodie“:

„Alle die zweisilbigen Wörter, welche sich auf -bar, -haft, -heit, -lein, -sal, -sam, -schaft und -tum endigen, als fruchtbar, zaghaft, Kindheit, Büchlein, Trübsal, mühsam, Freundschaft, Reichtum, lassen sich besser zu Trochäen, als zu Daktylen brauchen; wenn sie zu Daktylen gebraucht werden, so muss die hinzugefügte kurze Silbe sich wenigstens mit einem Vokale anfangen, als: Reichtum und Ehre,  Freundschaft im Tode, — ◡ ◡ — ◡; Wahrheit zu lehren hingegen würde äußerst hart klingen.

Ebendies gilt nun auch von den zusammengesetzten Wörtern, die den Akzent auf der ersten Silbe haben, als Unmut, Trostgrund, Aufruhr, welche sich auch besser zu Trochäen, als zu Daktylen brauchen lassen; wenn sie aber zu Daktylen gebraucht werden, wenigstens immer eine kurze Silbe, die mit einem Vokal anhebt, nach sich erfordern, als: Unmut und Klage, Trostgrund im Tode, Aufruhr im Innern, — ◡ ◡ — ◡; in Trostgrund des Weisen würde Trostgrund des ein schlechterdings unerträglich harter Daktylus sein.“

Das ist eine Unterscheidung, die genauer hinhört, als es gemeinhin der Fall ist! Ich werde von nun an darauf achten, wie die einzelnen Verfasser das handhaben, rechne aber (zumindest unter den Klassikern) mit einer geringen Ausbeute; denn die Hexametristen, die so genau unterscheiden, würden ein Wort wie „Trostgrund“ ohnehin nicht in einen Daktylus nehmen; und die, die es tun, halten sich mit so feinen Unterscheidungen, ob die folgende Silbe  mit Konsonant oder Vokal beginnt, ganz bestimmt nicht auf … Aber wer weiß! Die Spur ist gelegt; ich werde ihr folgen.

Erzählverse: Der Blankvers (79)

Richard Dehmels „Der Wunschgeist“ ist ein wenig zu lang, um hier vollständig vorgestellt werden zu können; aber die ersten Abschnitte geben schon einen guten Eindruck von der Tonlage des Textes:

 

Und wieder saß ich spät mit mir allein,
im Lichtkreis meiner Lampe, Ausgeburten
sehnsüchtiger Not durchs Hirn vom Herzen wälzend,
und wusste nichts von mir; ein krasser Wust
von Wünschen, schwirrt‘ ich vor mir selbst im Kreis
und sah die Wunschgespenster sich verknäueln,
sich würgen und sich fressen und in Qual
und zuckender Wollust miteinander paaren,
um neue Ausgeburten zu gebären.

Bis mir auf einmal, im verrückten Rausch
des Mitgefühls, die Nägel meiner Finger
in meine heißen Augenhöhlen fuhren,
dass ich aufwankte aus der Schwelgerei.
Und taumelnd fühlt‘ ich mich zum Fenster hin,
und stand und atmete die sanfte Nacht.

Da dehnte sich im Dunstlicht um mich her
Berlin – mit seinen Dächern, seinen Türmen,
Schornsteinen, Schloten, Kuppeln, Ruhmessäulen
heraufgebaut ins fahle Blau, als langte
aus ihrem Grabe scheintot eine Riesin
und reckte alle Finger bettelnd hoch:
nur leben will ich, leben, atmen, essen!

 

Inwieweit das eine gültige Beschreibung Berlins gewesen sein könnte, und vielleicht heute noch ist, müssen die Berliner entscheiden. Dehmels Blankvers jedenfalls fängt das Unruhige des Textes fein ein, finde ich; von den metrischen Freiheiten wird gerade soweit Gebrauch gemacht, dass der Text nicht zu getragen-würdig daherkommt – hier eine doppelt besetzte Senkung, da eine versetzte Betonung, einige, aber nicht zu auffällige Zeilensprünge.

Erzählverse: Der Hexameter (136)

Manchmal findet man Dinge im Netz, die man gar nicht gesucht hat … Palmer Cobbs Hebbel’s use of the Hexameter in „Mutter und Kind“, erschienen im Januar 1910 in Modern Philology, ist ein solcher Fall; das Lesen hat sich aber sehr gelohnt und ich empfehle den Text also gleich weiter – allzu lang ist er nicht, gerade mal elf Seiten. Auf denen finden sich aber sowohl sinnvolle allgemeine Betrachtungen, wie etwa bezüglich der alten Frage: „Sind Trochäen möglich im Deutschen Hexameter?“

„It is just here that the question of the time measure plays its principal role. If a trochee can be found which fills out the time measure of the foot, then the rhythm will not be marred. And the non-constant quality of the German syllable makes this possible. The indefinite article eine as a verse foot will always do violence to the rhythm. It is capable of being shortened but not prolonged. But trochees may be admitted in the hexameter which have an arsis capable of being long sustained, or a thesis with a full vowel or a strong consonant. A natural pause between the two elements of the foot may also fill out the time intervall of the foot. It is thus evident that the trochee can neither be generally excludet nor indiscriminately admitted in the hexameter. Each case must be judged separately.“

Eine ausgewogene Betrachtungsweise?! Am einzelnen Vers arbeitet Cobb, wenn er die Erstfassungen Hebbels mit den späteren Fassungen vergleicht. Ein Beispiel:

Abgefallen! Ich glaubte im Anfang, es wäre sein Vater

Hier hat Hebbel später den Daktylus „Anfang, es“, der eine unschöne Nebenbetonung / Länge auf der zweiten Silbe hat, ersetzt:

Die nicht denken! Ich glaubte zuerst, es wäre sein Vater

… und das ist allemal eine deutliche Verbesserung in Bezug auf die Versbewegung! Solche lohnenden Vergleiche gibt es viele; wie gesagt, der Text ist lesenwert.