Archiv für den Monat Juli 2016
Erzählformen: Der Zweiheber (25)
Ein Stück aus Friedrich Rückerts Liedertagebuch für 1851:
Ich sah zwo Bienen
Und sah zwo Blumen:
Flog eine Biene
Zur einen Blume,
Zur andern Blume
Die andre Biene.
Und beide fingen
Rasch an zu saugen,
Begierig jede
An ihrer Blume.
Bald war die eine
Mit ihrer fertig,
Und flog von hinnen;
Ich sprach: es ist wohl
Kein Seim mehr drinnen.
Da war desgleichen
Die andre fertig,
Und flog von dannen:
Wohl ausgetrunken
Hat sie die Kannen.
Wohin flog jene?
Zu dieser Blume.
Wohin flog diese?
Zu jener Blume.
Und beide fangen
Frisch an zu saugen:
So wechselliebend
Ist Bienenliebe;
So unerschöpflich
Sind Blumenkelche.
Ich glaube, bei längeren Texten im Zweiheber stellt sich vor allem die Frage, ob die Verse als eigenständige Größen erkennbar werden?! Rückert fährt hier eine Menge auf – Wiederholungen vor allem und Parallelsetzungen (wie es die „Zwei“ nahelegt), aber auch Reime (in der Mitte des Textes), aber nur wenige, die ein frisches Hinhören ermöglichen, Zeilensprünge nur an den Grenzen von Sinneinheiten, und noch vieles mehr; und erreicht so diese Wiedererkennbarkeit des Zweihebers durch alle dreißig Verse!
Das Königreich von Sede (93)
„Schwer verständlich ist der Frösche Rede“,
Seufzt, der lange lauschte, Schemel: „Jede
Sache, alles, was geschieht, heißt Quak;
Jede Eigenschaft und jeder Umstand,
Ich, der alt bin; kam; und hier herumstand,
Bis die Nacht mich deckte – alles Quak.“
Seufzt es, schweigt und lauscht; doch als ihm endlich,
Nacht ist es nicht länger, ist schon Tag,
Antwort tönt, ist sie ihm schwer verständlich,
Frösche reden: er hört Quak.
Erzählverse: Der Blankvers (82)
Seine Natur und sein Leben offenbaren sich uns von früh auf als sich selbst zerrüttende in frivolster und unwürdigster Weise, und zwar ohne dass die Ungunst der Verhältnisse ihn ins Verderben getrieben hätte. Leichtsinn, Sinnlosigkeit, Anmaßung, Eitelkeit, Unwahrheit, Heuchelei und was den Menschen sonst verunehrt erschrecken uns auf Schritt und Tritt und halten ihn auch in seinem künstlerischen Streben von der ihm anscheinend durch sein Talent angewiesenen Höhe fern. In seinen Schöpfungen finden sich hart nebeneinander, ja wirr und wüst durcheinander Partien von unleugbar großer Schönheit, von überraschender Gewandtheit und Kraft in Darstellung und Sprache, und eine Formlosigkeit sondergleichen, ein grausiges Gebräu von Glauben und Aberglauben, von toller Mystik und wilder Phantasie, und eine bis zum Fratzenhaften sich steigernde Übertreibung.
– So ungewöhnlich harsch urteilt Edmund Hoefer in seiner „Deutschen Literaturgeschichte für Frauen und Jungfrauen“ (!) über Zacharias Werner. Der hat, zum Beispiel in seinem erfolgreichen Drama „Martin Luther, oder die Weihe der Kraft“, aber auch kreuzbrave Blankverse geschrieben:
Steiger
Sag’s nicht, Gevatter Klaus! Das Liederwesen,
Ich meine, so der Ton, die Melodei,
— Das tut uns, mein‘ ich, Not, wie Brot und Wasser.
Denn schau‘ – wenn ich recht viel zu Tag gefördert
Und sitze abends so bei meiner Gertraut,
Und meine Buben spielen um mich her,
Und’s jüngste Mädel schlummert mir im Arme, —
Dann schau, Gevatter! — wenn ich auch nicht sing‘,
So ist mir’s doch, als säng‘ mir was im Herzen,
Als ob mir, Gott verzeih’s, der liebe Herrgott
Ein Liedlein selber spielt‘ in meiner Brust.
Ein Stück, das einzelne schöne, ja gewaltige und hinreißende Partien enthält, aber auch in toller Mystik und Rhetorik das Mögliche leistet und aller inneren Klarheit entbehrt. – Hoefer über den „Luther“; wo da die vorgestellten Blankverse einzuordnen sind, mag jeder selbst entscheiden … Als Beispiel dafür, wie man einen ungezwungenen, fast einfältigen Ton in den Blankvers bekommt, taugen sie allemal!
Bücher zum Vers (89)
Heinz Schlaffer: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik.
In seiner Einleitung sagt Schlaffer über dieses Buch:
Sein Titel rückt dem zarten Wesen der Lyrik mit einem kruden Begriffspaar zu Leibe: Zweck und Mittel. Die Absicht, Gedichte als zweckgerichtete Handlungen zu verstehen, wird Befremden hervorrufen. Doch wer die ältesten überlieferten Gedichte liest – ägyptische und indische Gebete, hebräische Psalmen, frühgriechische Hymnen und Oden, althochdeutsche Zaubersprüche -, muss zugeben, dass diese etwas, und nicht wenig, bewirken wollten: die Götter gnädig stimmen, Krankheiten heilen, Missernten abwenden, den Feinden schaden. Der Glaube am eine solche Wirkung von Versen sei schon lange erloschen, wird man einwenden, aus der Lyrik sei etwas anderes, etwas Zweckfreies, wenn nicht Zweckloses geworden. Dem lässt sich entgegnen: die ältesten Zwecke sind zwar verschwunden, nicht aber die Mittel, die einst dazu dienten, jene Zwecke zu befördern – und zu diesen Mitteln gehört, wie sich zeigen wird, mehr als die auffällige sprachliche Gestalt der Lyrik. Ohne das Verständnis ihres archaischen Zwecks lassen sich die bis heute eingesetzten Mittel nicht verstehen. (Seite 9)
Das umreißt den Inhalt schon ganz gut … Los geht es dann mit Überlegungen zur „Anrufung“, was an sich ein sehr lohnender Gegenstand ist!
In der archaischen, nur im Rahmen des Gedichts noch gültigen Denkweise sind Materie, Pflanzen, Tiere, Menschen, Seelen, Geister nicht scharf von einander getrennt, sondern miteinander verwandt, ineinander verwandelbar und deshalb auf gleiche Weise ansprechbar. Es ist eine spezielle Leistung des Anrufs und eine generelle Aufgabe der Lyrik, die Seele und die Dinge einander anzunähern.
Noch ein kurzes Zitat aus diesem ersten Kapitel (Seite 21), das zeigt: hier liegt ein gut lesbares Buch vor, das Nachdenkenswertes vorstellt, und ob man den Überlegungen des Verfassers schlussendlich zustimmt oder sie ablehnt, ändert nichts daran, dass die für das Lesen aufgewendete Zeit gut angelegt ist.
Erschienen ist der Band 2012 bei Hanser!
Das Königreich von Sede (92)
Schemel weiß es sehr zu schätzen,
Wenn an jenen stillen Plätzen,
Da er seine Lieder übt,
Frösche seiner Ankunft harren
Und zum Gruß so leise quarren,
Dass die Stille ungetrübt,
Klar und tief auf allen Dingen
Liegt, doch leblos nicht: ein Singen
Ruht in ihr. Das weckt der Narr,
Bittet, dass es ihn verwende,
Seine Stimme, seine Hände
Auf der Laute – Stille war,
Stille ist und Schemel singt sie,
Aus des Narren Worten dringt sie,
Unscheinbar zuerst und klein,
Groß und kraftvoll jetzt ins Denken,
Das nur sich kennt, es zu lenken:
Aus der Welt ins Anderssein.
Erzählverse: Der trochäische Vierheber (53)
Im Zusammenhang mit den trochäischen Vierhebern war beim Verserzähler schon häufiger von „Leichtigkeit“ die Rede, von „absichtslos wirkenden Versen“ und ähnlichem; derlei sieht immer sehr einfach aus und ist es doch nicht – oft scheitern die Verfasser damit! Alfred Stahrs „Abschied“ liest sich so:
Was der Nacht die gold’nen Sterne
Und dem Tag die Strahlensonne,
Was dem Frühling Duft und Blumen,
Was dem Leben ist die Jugend –
Ach dies alles, du Geliebte,
Ach dies alles warst du mir!
Darum, jetzt von dir geschieden,
Leuchten mir nicht mehr die Sterne,
Strahlt nicht mehr die gold’ne Sonne,
Schwand dem Frühling Duft und Blüte,
Schwand der letzte Rosenschimmer
Meiner Jugend mir dahin.
Hm. Das überzeugt nicht?! „Strahlensonne“ wirkt künstlich, in V4 ist die Satzstellung schräg, „gold’ne“ wirkt wie ein Füllsel; schlimmer als all diese kleinen Unbeholfenheiten ist aber der Verdacht, das „Ich“ könnte meinen, was es da sagt, und diese sozusagen eindimensionale Ernsthaftigkeit erlaubt eben nicht jene Leichtigkeit, die ein Text hat, der im besten Sinne verspielt wirkt.
Bild & Wort (188)
Erzählformen: Das Distichon (32)
Alles verwandelt sich; nichts stirbt. In schöner Verwandlung
Wird die Hoffnung Genuss und das Verlor’ne Gewinn.
– Ein Distichon von Johann Gottfried Herder, das er mit fünf anderen Einzeldistichen zusammengefasst hat unter der Überschrift „Grabschriften“, was auf die Art, wie der Leser den Inhalt wahrnimmt, sicher einigen Einfluss hat?!
Mir scheint dieses Distichon aber auch bezüglich der Form seines Hexameters bemerkenswert:
Alles ver- / wandelt / sich; nichts / stirbt. || In / schöner Ver- / wandlung
— ◡ ◡ / — ◡ / — — / — || ◡ / — ◡ ◡ / — ◡
Das „sich“ ist Hebung, und um diese an sich schwache Silbe zur Geltung zu bringen, muss der Vortragende rechtzeitig abbremsen, um den nötigen Raum, die nötige Zeit zu haben; das „nichts“ und das „stirbt“ dürfen dann, wenn auch viel gewichtiger, nicht allzu sehr gegenüber dem „sich“ hervorgehoben werden. Dadurch, und durch die beiden tiefen Satzeinschnitte, bekommt dieser Hexameter in seiner Mitte einen Punkt tiefer Ruhe, auf den seine Bewegung hinführt, und von dem aus sie wieder Fahrt aufnimmt.
Ein fein gestalteter Vers!
Das Königreich von Sede (91)
Und Schemel sieht die Nacht auf Schloss und Graben sinken,
Sieht aus der bunten Welt ein Dunkel satt sich trinken,
Das rülpst ihn schweigend an: „Wer bist du, alter Narr?“
– Hört aus der Wellen Spiel, dem sich im nahen Graben
Die Frösche sonder Zahl froh hingegeben haben,
Ein Quarren, hört: „Wer ist, der war“.