Erzählverse: Der trochäische Vierheber (55)

Karl immermanns humoristisch-satirisches Versepos „Tulifäntchen“ habe ich schon in (19) vorgestellt; Ich komme hier noch einmal darauf zurück, weil ich gestern einige schöne Sätze von Benno von Wiese darüber gelesen habe (in seinem Buch „Perspektiven II“, erschienen 1979 im Erich Schmidt Verlag, auf den Seiten 115 und 116).

Die Gravität der trochäischen Kurzverse, die einen langen epischen Atem nur vortäuschen, (…) dient als bewusster Kontrast zum komisch-satirischen Stoff. Komische Wirkungen werden durch die parodistische, gewollt übersteigerte Verwendung überlieferter epischer Mittel erreicht. Versform und Sprachgestaltung nähern sich durch den Widerspruch des Großartigen zum Nichtigen oft dem Grotesken, ja sogar dem Absurden.

Wie klingt das bei Immermann? So – Tulifäntchen, daumengroß, begegnet „Ritter Fis von Quinten“:

 

Welche Triller, welche Läufe
Dringen aus dem Busch, dem grünen?
Klingt es doch wie Sterbeklaglaut!
Aber singt man, wenn man abfährt?

Tulifäntchen kam getrabet,
Sprang behend vom Ohr des Schimmels;
In das Dickicht, ohne Bangen,
Abenteuerdurstgequälet,
Schritt der Held, Don Tulifäntchen.

Blut’ge Steine! Roter Rasen!
Einen Jüngling, bleich zum Tode,
Trug das rote Bett von Rasen.
Tulifäntchen flog zum Wunden,
Sprang auf seine Brust mitleidig,
Neigte sich zum Ohr des Blut’gen,
Und er wisperte ins Ohr ihm:
„Sprich, wer bist du? Wer erschlug dich?
Kann ich helfen? Kann ich noch dir
Was erzeigen? Liebes, Gutes?“

Sprach’s. Da griff der Todeswunde,
Welcher war ein Mann des Sanges,
Mollakkord auf der Gitarre,
Die er hielt in seinem Arme,
Präludierte, sang. Er sang es
Mit dem reinsten, schönsten Vortrag:

„Nicht kannst du mir helfen, Kleiner,
Liebes, Gutes nicht erzeigen.
Mich ereilt der Tod inmitten
Meiner harmonienschwangern,
Sang- und klangdurchrauschten Tage.
Sieh das Blut in meinem Schopfe,
Fühl im Schädel dieses Loch!“

 

Das kindlich Naive, das unreflektiert Märchenhafte, die innere Natürlichkeit auch und gerade noch im Albernen, die unbekümmerten Spiele der Phantasie, die schon mit der Form und Sprache des Epos zu spielen wagen – alles dies gibt „Tulifäntchen“ den sonst bei Immermann nirgends erreichen Schmelz des Leichten und Unbeschwerten.

Sagt von Wiese und hat recht – vor allem mit dem „sonst nirgends erreichten“. Weswegen …

Noch heute lässt sich das Graziöse dieser Dichtung, ihr phantasievolles Scherzen, ihr liebenswürdiger, von jeder Galle freier Humor und ihr schlagfertiger Witz ohne jeden Vorbehalt genießen.

… zumindest für mich diese seine Aussage zutrifft in Bezug auf „Tulifäntchen“, während ich den „restlichen Immermann“ deutlich weniger reizvoll finde!

Dichterklause

Zwei windzerzauste Krähen
Haben durchs Fenster geschaut,
Und haben den Dichter gesehen;
Und lachten krächzelaut!
Der Dichter hat es wohl gehört
Und schrieb doch weiter Verse,
Als hätt’s ihn nicht gestört.

Erzählformen: Das Distichon (36)

Ein weiteres Beispiel für Friedrich Rückerts Umgang mit den Gestaltungsmöglichkeiten des Distichons, auch dieses genommen aus dem Liedertagebuch des Jahres 1855:

 

Liebchen, den blühenden Rasen betanze mit zierlichen nackten
Füßchen, im kotigen Weg ziehe dir Stiefelchen an.

 

Inhaltlich ist das Distichon antithetisch gebaut, wie es bei diesem Verspaar sehr häufig geschieht; allerdings verteilt Rückert die beiden entgegengesetzen Aussagen nicht auf die beiden Verse, sondern er lässt die erste Aussage bis in den zweiten Vers laufen! Man vergleiche:

Liebchen, den blühenden Rasen betanze mit nackigen Füßchen,
Aber im kotigen Weg ziehe dir Stiefelchen an.

– Das wäre das ganz harte Gegeneinander der Verse, noch betont durch das den Pentameter einleitende „aber“. Da ist schon viel von dem Spielerischen und scheinbar Absichtslosen aus Rückerts Versen verschwunden; noch klarer und härter werden sie, ersetzt man die Verkleinerungsformen:

Liebste, den blühenden Rasen betanze mit nackigen Füßen,
Aber im kotigen Weg ziehe die Stiefel dir an.

Und das ist dann schon ein ganz anderes Gedicht. Erwartbarer, vielleicht; aber besser?! Vieles von dem, was Rückert geschrieben hat, wirkt beim ersten Lesen wie ungekonnt, doch wie man Verse macht, wusste er sehr gut; und was er geschrieben hat, nicht für andere, sondern für sich, ist daher immer bewusste und willentliche Gestaltung, eine Auswahl aus den vielen ihm zu Gebote stehenden Gestaltungsmöglichkeiten. Und wenn man sich auf diese Gestaltung einlässt, kann man immer wieder Schönes und Ungewöhnliches entdecken! Das gilt auch für den Wortschatz, also hier zum Beispiel für das „betanzen“.

Statt eines Feuerzeugs

Frischgeschlag’ne Funken
Springen weg vom Stein,
Sind schon tief gesunken:
In den Schwamm hinein.

Da! Jetzt glimmt der Zunder.
Pusten schürt die Glut,
Stärkt dies kleine Wunder,
Und mit frischen Mut

Schiebst du es nun unter
Knistertrock’nes Stroh.
Rauch erhebt sich munter,
Kräuselt lebensfroh,

Lässt dich krampfhaft husten.
Doch du kehrst zurück
Um erneut zu pusten,
Und hast endlich Glück:

Schau! Es schlagen Flammen
Aus dem roten Schein,
Finden sich zusammen –
Feuer tritt ins Sein.

Erzählverse: Der Knittel (17)

Christoph Martin Wieland war, ohne jeden Zweifel, der Meister des anmutigen, erzählenden Reimverses. In seinem Gandalin (auch schon in (5) angesprochen!) nutzt er eine Art „gezähmten Knittel“, mit dem er die wunderbarsten Wirkungen zu erzielen weiß – so gleich zu Anfang der Erzählung, als er deren Helden eine „Art von Liebe“ bescheinigt,

 

Die tief im Eingeweid brennt und nagt,
Die alle Lust zu Spiel und Scherzen,
Die Schlaf und Esslust euch versagt
Und ohne Rast, den Pfeil im Herzen,
Durch Berg und Tal euch treibt und jagt,
Bis ihr erschöpft von Angst und Schmerzen,
Verblutet, lechzend, atemlos
Der schönen Feindin vor die Füße
Hinsinkt, das Köpfchen in ihren Schoß
Verbergt und sterbt, und glaubt wie süße
Der Tod euch schmecke, wenn allenfalls
Ihr glattes Pfötchen um Brust und Hals
Euch noch zur Letze freundlich krabbelt,
Und euer gebrochnes Herzchen wohl gar
An ihrem Busen sich verzabbelt:
Das nenn‘ ich lieben! Nur ist’s rar!

 

Das will, unbedingt! laut gelesen werden. Und klingt und schwingt dann, dass es scheint, als könne gar nicht anders erzählt werden als in Versen … Große Kunst, wenn auch nicht zeitgemäße.

Erzählverse: Der Hexameter (151)

Im Hexameter können bekanntlich die ersten vier, der daktylischen Grundart des Verses entsprechenden dreisilbigen Versfüße durch zweisilbige ersetzt werden. Die Frage, wie diese zweisilbigen Füße im Deutschen auszusehen haben, ist in den Anfangszeiten des Verses eindringlich bedacht und besprochen worden, genau wie die Texte, die aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse geschrieben wurden; und auch heute noch ist das einer der Punkte, über die sich ein Verfasser unbedingte und äußerste Klarheit verschaffen muss, wenn sein eigener Hexameter klar, eindringlich, überzeugend und wiedererkennbar klingen soll!

Da hilft es ungemein, die in der Vergangenheit schon gegebenen Antworten durchzusehen, um zu schauen, was überzeugt, was nicht überzeugt; und was man als Bausteine des eigenen Verses an einzelnen Dingen aus solchen Darstellungen übernehmen kann.

Zweisilbige Versfüße, das sind im deutschen Hexameter entweder „Trochäen“ (betonte, schwere erste Silbe / unbetonte, leichte zweite Silbe) oder „Spondeen“ (betonte, schwere erste Silbe / eher etwas weniger betonte, schwere zweite Silbe), wobei die Übergänge fließend sind. Da der antike Hexameter im Versinneren keine Trochäen kennt, ist ihre Verwendung in der deutschen Nachbildung des Verses immer eine wichtige Frage gewesen.

Leonard Martin Eisenschmid hat in seiner „Theorie der Dichtungs-Arten: Nebst einer Verslehre“ folgende Regeln für die Verwendung der Trochäen gegeben (ausgehend von einem Vers, der aus „Daktylen“ und „Spondeen“ besteht und die zusätzliche Verwendung von „Trochäen“ zulässt):

1) Man lasse nie zwei trochäische Versfüße aufeinander folgen.
2) Man lasse weder auf einen Worttrochäus noch auf ein trochäisch endendes Wort einen Trochäus folgen; selbst keinen scheinbaren Trochäus, der durch das folgende Wort zum Daktylus wird: „Gute Freunde verstehn“.
3) Vor und nach einem gesenkten Wortspondeus darf kein Worttrochäus stehen; zum Beispiel „Deutschland, zittre!“
4) Vor der männlichen und weiblichen Zäsur meide man den Worttrochäus.
5) In einem der ersten drei Füße ist der Trochäus weniger auffallend als im vierten, wo er nur selten, und im fünften, wo er nie stehen darf.

Als (Ersatz für) Spondeen statthaft sind nur:

1) Jene Trochäen, die mit säumender Mittelzeit in der Senkung für Spondeen gelten können, zum Beispiel Wahrheit, Hoffnung, Kenntnis, sittsam, schamhaft, haltbar, glaubhaft.
2) Trochäen, deren Kürzen entweder durch kräftig schallende Vokale oder Diphthongen oder durch eine Position mit drei und mehr Konsonanten an Dauer in der Aussprache gewinnt: Roma, Sultan, Orpheus, zitternd, schimmlicht, weiland.
3) Trochäen, wo die Kürze von der Länge getrennt eine Pause gestattet, besonders bei einer Elision: lob‘ es, schmettr‘ ihn, oder bei einem Haupteinschnitt des Verses.
4) Trochäen mit einer weiblichen Kürze zwischen zwei notwendigen Längen in zusammengesetzten Wörtern und Begriffen, zum Beispiel Angestemmt, Fuß an Fuß; oder dort, wo das Wort in den folgenden Fuß hinübergreift und das Ohr über die Kürze weghebt, zum Beispiel „schön geschleierte Deo“.

Eine klare Sicht auf die Dinge; aber nur eine unter vielen, die man bedenken und bewerten sollte, um dann das für das eigene Schaffen nützliche daraus mitzunehmen! „Richtig“ und „falsch“ sind dabei nicht unbedingt die entscheidenen Beurteilungsmaßstäbe – das ist eher die Frage „Hilfreich oder nicht bei der Ausbildung meines Hexameters?“

Ich fand Eisenschmids Ausführungen für mich recht brauchbar und halte sie auch im allgmeinen für ausgewogen und belastbar; weswegen ich sie hier mitteile.

Schillers Sonette (3)

Ein drittes und letztes Beispiel für den kanzonenartigen Gedichtaufbau, der schon in Schillers Sonette (1) und Schillers Sonette (2) vorgestellt worden ist. Diesmal ist es ein Gelegenheitsgedicht, drei Stropen „An Demoiselle Slevoigt“ anlässlich ihrer Hochzeit. Die erste davon:

 

Zieh, holde Braut, mit unserm Segen,
Zieh hin auf Hymens Blumenwegen!
Wir sahen mit entzücktem Blick
Der Seele Anmut sich entfalten,
Die jungen Reize sich gestalten
Und blühen für der Liebe Glück.
Dein schönes Los, du hast’s gefunden,
Es weicht die Freundschaft ohne Schmerz
Dem süßen Gott, der dich gebunden;
Er will, er hat dein ganzes Herz.

 

– Was man so schreibt bei derlei Gelegenheiten … Aber trotzdem gut gemacht, mit Herz-Schmerz-Reim und allem!

Der Vers ist diesmal der iambische Vierheber, und wie bei den anderen beiden vorgestellten Texten hat Schiller auch hier die „Einzelteile“ der Langstrophe in anderen Gedichten genutzt: Die einleitende sechszeilige Schweifreimstrophe zum Beispiel (gegen ihren sonstigen Gebrauch) erzählend in seiner berühmten Ballade „Der Ring des Polykrates“, den allgemein sehr häufigen kreuzgereimten Vierzeiler gleichfalls erzählend in „Das Mädchen aus der Fremde“.

Erzählformen: Das Distichon (35)

Schon ein einzelnes Distichon hat einige Möglichkeiten der inneren Gliederung; bei einem Doppel-Distichon sind diese Möglichkeiten noch um vieles größer! In Friedrich Rückerts Liedertagebuch aus dem Jahr 1855 findet sich ein Doppeldistichon, dessen erste Hälfte so lautet:

Ruhig horstet der Aar im wogenden Wipfel des Baumes,
Sicher schreitet die Raup‘ über den Bach auf dem Halm;

– Und nun ist die erste Erwartung für die zweite Hälfte des Textes, das zweite Distichon vielleicht eine nähere Ausführung des Gegensatzes zwischen „Aar“ und „Raupe“, den oft genutzten antithetischen Anlagen des Distichons gemäß; es kommt aber ganz anders!

 

Ruhig horstet der Aar im wogenden Wipfel des Baumes,
Sicher schreitet die Raup‘ über den Bach auf dem Halm;
Ohne Gefahr schaut um von schwindelnder Höhe der Steinbock:
Nur in der Furcht ist Gefahr, Schwindel im Zweifel allein.

 

„Aar“ und „Raupe“ bilden mit dem „Steinbock“ die Teile einer dreigliedrigen, den eigentlichen Bau des Doppeldistichons überspielenden Aufzählung, der im Schlussvers eine aus diesen Beispielen gewonnene Erkenntnis folgt; die ist dann allerdings, der Zweigeteilt des Pentameters  genau entsprechend, verdoppelt und auf die beiden Vershälften verteilt.

Ein ungewöhnlicher Aufbau!

Ohne Titel

Ein kluges Kind
Im Freien steht;
Es fragt den Wind,
Warum er weht.

Der hört das Kind,
Und er gesteht,
Das jeder Wind
Aus Gründen weht,

Die kaum ein Kind
Der Welt versteht.
„Wie heißt der Wind,
Der niemals weht?“

Fragt er das Kind,
Und es entsteht
Ein Schweigen. „Wind,
Der niemals weht?!“

Fragt dann das Kind.
Es widersteht
Dem Spott der Wind,
Nein, er umweht

Das kluge Kind:
„Wer dies versteht,
Das Wort vom Wind,
Der niemals weht,

Der ist kein Kind.
Ein Weiser steht
Dann vor mir Wind.“
Und sanft verweht

Er, läßt das Kind,
Das sinnend steht.
Dann dankts dem Wind,
Der nicht mehr weht –

Doch vor dem Kind
Nun aufersteht!
Ein froher Wind,
Der lustig weht:

„Das erste Kind,
Das ihn besteht,
Den Test vom Wind,
Der niemals weht!“