Erzählverse: Der Blankvers (90)

Anette von Droste Hülshoffs „Des Arztes Tod“ beginnt mit einer eindringlichen Beschreibung:

 

Im linden Luftzug schwimmt mit irrem Schein
Des Nachtlichts Fieberflamme; und kein Laut
Verbirgt des Röchelns leises Nahn dem Ohr,
Das angstvoll ob dem bleichen Antlitz lauscht.
Still liegt der alte Berthold, tief gesenkt
Die heiße Wimper, und ein wirrer Schlummer
Hält ihm die halberloschnen Sinne fest.

 

Bald danach wendet sich der Sterbende noch einmal an seine beiden Söhne, einer schon erwachsen, einer noch jung:

 

Ihr Kinder, lasst mich reden, und gedenke
Nicht deiner Kunst, mein Sohn! Du weißt es nicht
Und keiner, dem nicht also ist geschehn,
Wie furchtbar in dem schwirrenden Gehirn
Der schwindenden Besinnung letzte Kraft
Sich abquält um des Wortes Erleichterung,
Wie siedend der Gedanken wirrer Schwarm
Bald, nur in dumpfer Ahnung, Namenloses
Der kämpfenden Erinnerung versagend,
Bald sonst Unwicht’ges immer riesenhafter
Und immer schwerer in die Seele senkend
Vergebens die entflohne Stunde sucht.

 

Dass sich die Sprache „abquält“, lässt sich nicht wirklich sagen: Die Sätze sind wohlgefügt und keineswegs schlicht, die Verse sind gut gebaute Blankverse, die sich der erlaubten Freiheiten nur in sehr geringem Maß bedienen.

Und doch: Da ist etwas gequältes, das die Lage des Sprechenden sehr gut verdeutlicht?!

Solche Sterbeszenen überzeugend zu schreiben, ist sicher keine leichte Aufgabe; ein anderes Beispiel in Blankversen bietet das gleichfalls schon beim Verserzähler vorgestellte Geh nicht hinein von Theodor Storm.

Erzählformen: Das Distichon (52)

Neueste Epigrammertsvögel

Eines verehr’ ich, den Schweiß, die Schwiele, die Schwester des Schweißes
Lieb’ ich und drücke die Hand brüderlich schwitzend mir selbst.

 

Das Schluss-Distichon eines Textes von Ludwig Eichrodt, der die unernsten Möglichkeiten der Form erkundet! Nicht umsonst heißt die Sammlung, in der er sich findet, „Lyrische Karrikaturen“ …

Die „Schw-Häufung“ des Hexameters wird noch durch die drei Amphibrachen ◡ — ◡ der zweiten Vershälfte verstärkt, was hier am Platz ist (sonst aber den Vers ein wenig schwächt).

Erzählformen: Das Reimpaar (30)

Nikolaus Lenau führt in „Die Drei“ das Reimpaar aus iambischen Vierhebern in seiner Reinform vor – keine auflockernden doppelt besetzten Senkungen, keine Abwechslung schaffenden weiblichen Versschlüsse, kein inhaltliches Übergreifen aus einem Verspaar ins nächste, kein nichts:

 

Drei Reiter nach verlorner Schlacht,
Wie reiten sie so sacht, so sacht!

Aus tiefen Wunden quillt das Blut,
Es spürt das Roß die warme Flut.

Vom Sattel tropft das Blut, vom Zaum,
Und spült hinunter Staub und Schaum.

Die Rosse schreiten sanft und weich,
Sonst flöss‘ das Blut zu rasch, zu reich.

Die Reiter reiten dicht gesellt,
Und einer sich am andern hält.

Sie sehn sich traurig ins Gesicht,
Und einer um den andern spricht:

„Mir blüht daheim die schönste Maid,
Drum tut mein früher Tod mir leid.“

„Hab Haus und Hof und grünen Wald,
Und sterben muss ich hier so bald!“

„Den Blick hab ich in Gottes Welt,
Sonst nichts, doch schwer mirs Sterben fällt.“

Und lauernd auf den Todesritt
Ziehn durch die Luft drei Geier mit.

Sie teilen kreischend unter sich:
„Den speisest du, den du, den ich.“

 

Das ist ein Inhalt, dem die formale Strenge, die Beschränktheit sehr gut tut!?

Bei sich zu Hause hatte Lenau selbst einen Geier, doch der war ausgestopft und wurde vom Dichter angedichtet, gleichfalls in Reimpaaren, aber in weiträumig-alexandrinischen; wodurch der Text einen ganz anderen Klang bekommt. In den ersten beiden Reimpaaren des langen Gedichts geht es bissig zu:

 

Du stehst so still und ernst, mein ausgebälgter Geier,
Ich bringe dir ein Lied mit meiner ernsten Leier.

Zwar hörst du nichts davon, dir geht mein Gruß verloren;
Doch Dichter sind gewohnt, zu singen toten Ohren.

 

Wobei die Dichter diesbezüglich bis heute keine Gelegenheit hatten, sich zu entwöhnen, scheint mir.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (59)

Ephraim Moses Kuhs „Amors Nachfolger“ ist ein kurzes, eher epigrammatisches Gedicht ganz nach der Art des 18. Jahrhunderts:

 

Bei Dorinden fand ich neulich
Einen Mann mit Amors Bogen,
Und dem Köcher voller Pfeile.
Götter! rief ich, ich erstaune:
Ei! Wie schnell bist du gewachsen,
Guter, süßer Gott der Liebe!
Freund, du irrest, war die Antwort,
Mir, dem Gott des Eigennutzes,
Mir gab Amor seine Waffen,
Er besucht nicht mehr die Erde,
Ich vertrete seine Stelle.

 

– Aber noch heute lesbar, denke ich; auch durch die unauffällige Selbstverständlichkeit, mit der die ungereimten trochäischen Vierheber die Sprache gestalten! Wenn man sich einzelne Dinge anschaut, zum Beispiel die Verteilung der Satzpausen, oder die Gestaltung der Versschlüsse: bemerkt man schnell, dass „unauffällig“ dabei keineswegs „nicht durchdacht“ meint …

Erzählverse: Der Blankvers (89)

„Monologsatz, gerichtet an das Bildnis einer Rokokofürstin in Fulda“; so hat Otto Julius Bierbaum den folgenden Text genannt:

 

O schöne Dame, deren Asche nun
Wer weiß wie lang im Kupfersarge ruht
(Groß ist gewiß die Trauerweide schon,
Die drüber ihre Zweige fallen lässt,
Schmalblättrige: wie ihre Hände schmal
Und ebenso graziös im Hin und Her), –
O schöne Dame, deren Brünnlein einst
So lebhaft plapperte, wie – nun, wie jetzt
Der schönen Damen Brünnlein plappern, und
Die doch so stolz war, wie wir Heutigen
Nur selten Stolz wahrnehmen bei der Frau
(Weil, ach, so selten heute Adel ist), –
O schöne Dame, deren Namen wohl
Ins Grab versank, wie dieser Lippen Rot
Und dieser Augenbrauen seidnes Schwarz:
Du hattest mehr als einen Dichter einst,
Gewiß ein Dutzend wohl, und Dutzende
Von schwärmenden Verehrern voller Geist:
Doch keinen, der dich jemals so verliebt
Anschaute wie jetzt ich, denn, sieh, mir ist,
Als säh‘ ich meine Dame jetzt in dir,
Von der ich nun seit Tagen ferne bin,
Und der ich immer huldige, wo nur
Mich edle Schönheit, stolze Güte grüßt.

 

Wie gut das inhaltlich ist, wer weiß (mir gefällt es); die verwendeten iambische Fünfheber sind jedenfalls trotz des Umstands, dass sie alle „männlich“ schließen, von großer und das Leserohr einnehmender Lebendigkeit!

Erzählformen: Das Distichon (51)

Deutsche Epigramme wurden seit der Barockzeit in kurzen Reimtexten gestaltet; später kam dann das Distichon dazu, das spätestens mit den „Xenien“ Schillers und Goethes die Hauptform des kurzen Sinngedichts wurde.

Als 1832 eine Sammlung „Xenien“ eines unbekannten Verfassers erschienen, zeigte sich, dass die beiden Möglichkeiten auch verbunden werden können: Auf die (für ein Epigramm mehr oder weniger verpflichtende) Überschrift folgte ein kurzes Reimpaar, auf dieses dann das eigentliche Sinngedicht in einem oder zwei Distichen.

 

Null

Leere Worte macht er viele,
Und das sind ihm Musenspiele.

Jetzo setz‘ ich ein Xenion her, dem fehlt es an Inhalt;
Darin hab ich zum Vor – bild mir den Menzel erwählt.

 

Wolfgang Menzel war ein bekannter Literaturkritiker, der selbst kein Blatt vor den Mund nahm und auch in Distichen gegen die seiner Meinung nach unzureichenden Schriftsteller der Zeit gestänkert hat; da wird es ihn nicht gestört haben, wie hier auch einmal auf die „Empfängerseite“ eines Spott-Distichons zu geraten …

Bemerkenswert ist hier noch der Pentameter, in dem selbst die kleinstmögliche Pause zwischen den Halbversen, die entsteht, wenn der eine mit einem Wort endet, der andere mit einem neuen Wort beginnt, nicht verwirklicht wird; der Verfasser aber durch den Gedankenstrich, der das Wort spaltet, das die Versmitte überspannt, diesen Mittelpunkt doch wieder deutlich macht!

Erzählverse: Der Blankvers (88)

Dichterlos

Wenn ich die Lerche sehe, wie sie langsam
Mit süßem Sang sich in die Lüfte hebt,
Und dann schnell abwärts zu dem Boden stürzt:
So macht’s mich traurig. – Mühsam schwingt der Dichter
Wohl auch sich auf zu höhern Regionen,
Doch zieht das Leben schleunig ihn zurück;
Er bleibt ein Mensch und haftet an dem Boden!

 

Inwieweit das Dichterbild, das Heinrich Joseph von Collin hier schildert, heute noch gültig ist – „höhere Regionen“ -, lasse ich dahingestellt; bemerkenswert ist, wie der sieben Blankverse lange Text die beiden inhaltlichen Hälften auf jeweils genau dreieinhalb Verse verteilt! „Zu dem Boden“ und „an dem Boden“ klingen dabei ein wenig „metrumsgezwungen“ ….

Erzählformen: Das Distichon (50)

Als 1796 Schillers „Musenalmanach auf das Jahr 1797“ erschien, der mit seinen „Xenien“ – einigen hundert, von Goethe und Schiller gemeinsam verfassten satirischen Epigrammen in Distichonform – für gewaltigen Aufruhr im geistigen Deutschland sorgte, verfasste Christoph Daniel Ebeling eine Besprechung dazu – in Distichen! Dabei hatte er vor allem die Xenien im Blick:

 

Wir übergehen zuerst viel meisterhaft schöne Gedichte,
Voll Gefühls, wie Kleist, witzig, wie Lessing sie sang.

 

Einen Eindruck davon gibt dann das Ende der 62 Distichen langen Besprechung:

 

Doch wir fühlen, dass uns das Meisterwerk, wie wir es lesen,
Mit ansteckender Glut fast zu Dichtern entzückt;
Darum brechen wir ab, das Große, das Schöne zu schildern,
Den gutmütigen Scherz, den die hämischen Witz,
Der den stolzen Stümper nur straft, der prahlt, er sei Meister,
Doch aus Menschengefühl stets den Menschen verschont.
Nichtsinn oder Sinn, das ist hier niemals die Frage,
Denn ein jegliches Wort wird zum Gedanken der Kraft.
Alles ist meisterhaft hier, nichts Plattes, Schales, Gesuchtes;
Kein scurrilischer Spaß, alles männlich und stark!

 

– Schön. Manchmal etwas wacklig, aber trotzdem immer überzeugend und mit einem Sprachfluss, der dem Gegenstand, einer Buchbesprechung, angemessen ist!