Bücher zum Vers (106)

Kaspar Heinrich Spinner: Der Mond in der deutschen Dichtung von der Aufklärung bis zur Spätromantik.

Kein Buch über den Vers, aber eins voll mit Versen, die für die verschiedenen Dichter – Brockes, Gessner, Wieland, Klopstock, Hölty, Claudius, Bürger, Goethe, Jean Paul, Tieck, Brentano, Eichendorff – klar machen, welche Mond-Vorstellung ihnen zugrundeliegt.

Bei Klopstock zitiert Spinner zum Beispiel diese Hexameter aus dem achten Gesang des Messias (Seite 19):

Wie wenn ein Weiser in Tiefsinn, und seiner Unsterblichkeit werter,
Von den Uneinsamen fern, mit des Mondes Düften zum Walde
Wandelt, und nun, an der Hand der frommen Entzückung geleitet,
Dich, Unendlicher, denkt! wie ihm dann, zu tausenden, neue,
Bessre, große Gedanken die glühende Stirne voll Wonne
Schnell umschweben: So eilet, umringt von den Seelen, der Seraph.

Mit „des Mondes Düfte“ sei eine unfassbare, verschwimmende Vorstellung gegeben, sagt Spinner; der Mond sei hier das Gestirn der göttlichen Weisheit. Und:

„Wenn bei Klopstock der Weise Gott nachsinnt, so ist das nicht mehr bloß verstandesmäßiges Denken wie bei Brockes. Das Empfinden, die Seele, die Nachtseiten des menschlichen Bewusstseins sind mit angesprochen. Das Denken ist, wie man sagen könnte, lunar geworden im Gegensatz zu Brockes‘ sonnenhafter Verstandesklarheit.“

Erschienen ist der Band 1969 bei Bouvier.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (67)

„Querfeldein“ von Karl August Candidus ist keine große Dichtung, aber doch ein schönes Beispiel dafür, wie der trochäische Vierheber einem Inhalt Form und Gestalt geben kann; ihn beglaubigt.

 

Querfeldein am Ostermorgen
Trug mich Pegasus, bemäntelt,
Denn es flog um Ross und Reiter
Schnee, in dichten großen Flocken,
Ähnlich Schmetterlingsgespenstern,
Bleichen; aber drüber flogen
Hoch im Äther, jubilierend,
Lerchen, lebensrote Herzchen,
Frühlingsgläubig, blütensicher.

Wolkenreise

Lange Wolkenkarawanen ziehen stetig, ohne Rast
Durch unendlich blaue Weiten, folgen langsam, ohne Hast
Ihren himmelhohen Wegen, tragen, still vom Wind umfasst,
Hin zu ausgedörrten Fluren ihre schwere Regenlast.

Erzählformen: Das Distichon (89)

Weinenden klage dein Leid, und Frohen erzähle die Freude.
Ach! Es begreifet der Mensch nur, was er selber empfand.

 

Justine Wilhelmine von Kruft ist heute keine wirklich bekannte Dichterin mehr; ihr Distichon klingt zwar auch schon etwas altmodisch (vor allem das „Ach!“, eine Art von Ausruf, die längst aus der Dichtung verschwunden ist), ist aber inhaltlich heute noch genauso gültig wie zu den Lebzeiten der Verfasserin, und weil es die Baugesetze des Distichons recht zuverlässig umsetzt, wirkt es auch „richtig“: Der Hexameter ist zweigegliedert und stellt einen Sachverhalt vor; der Pentameter erklärt ihn.

Die metrische Form:

Weinenden / klage dein / Leid, || und / Frohen er- / zähle die / Freude.
Ach! Es be- / greifet der / Mensch || nur, was er / selber em- / pfand.

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Erzählformen: Das Reimpaar (36)

Die folgenden Verse sind, dies als Warnung: vergleichsweise schlecht.

 

Den nackten Stecken in der Hand
Zog er allein durchs deutsche Land

Und schaut‘ nach starken Schmieden aus
Und fand die rechten bald heraus

Und übt in Feuers Licht und Brunst
Bei großen Meistern seine Kunst.

Er schlug, dass hell die Welt erklang
Und Splitter rings und Funke sprang,

Und schmiedet‘ sich ein funkelnd Schwert,
Das macht‘ ihn tausend Ritter wert.

Er zwang die Riesen Not und Leid,
Wusch sich im Blut des Drachen Neid,

Gewann das Kleid Unsterblichkeit
Und deutsche Kunst, die Sternenmaid.

Wie früh sein irdisch Auge brach!
Der Tod ihn hinterrücks erstach.

Doch ruht auf deutscher Seelen Grund
Des werten Helden goldner Fund

Und strahlt in Tag und Nacht hinein
Mit tiefer Glut und klarem Schein.

 

Aber obwohl sie schlecht sind, kommt man ins Grübeln, beschäftigt man sich mit den Umständen:  Die Verse  enstammen  Otto Ernsts „Prolog zu einer Nibelungen-Aufführung“ und sind „Hebbel der Nibelungendichter“ überschrieben; und Friedrich Hebbel ist damit auch der im ersten Verspaar genannte „er“!

Nun waren solche Prologe keine Seltenheit; sie wurden allerdings vor allem in Blankversen geschrieben, oder auch in gereimten iambischen Fünfhebern, und andere Versformen, wie das hier von Ernst gewählte Reimpaar aus iambischen Vierhebern, kamen deutlichst seltener vor. Und auch der Inhalt, der Hebbels Leben in eine Art Nibelungen-Welt überträgt (was immerhin den „Drachen Neid“ und das „Waschen im Blut“ verständlicher macht), ist eher ungewöhnlich?!

Insgesamt ein sehr eigenartiger Text, der weniger schlicht – was vielleicht die Absicht war – wirkt als vielmehr wie nicht gekonnt … Aber wer weiß, vielleicht war er ja für diese besondere Aufführung, und damit: für dieses besondere Publikum genau das richtige!

Erzählformen: Das Distichon (88)

Jakob Julius David hat nicht sonderlich viele Gedichte geschrieben, und schon gar nicht in Distichen; aber da, wo er dem Leser eine antike Gestalt vor Augen stellten wollte: da doch!

 

Penelope

Endlos währte die Nacht. Mein Lager netzt‘ ich mit Tränen,
Drückt‘ an die Lippen den Pfühl, denkend des fernen Gemahls.
Bänglich graute der Tag. Ich ließ behende mein Bette
Und umwandelte zag Ithakas felsiges Rund;
Stieg zu den Höhen hinauf und wieder abwärts zur Küste,
Die mit gewaltigem Laut heiser die Meerflut umbrüllt.
Und ich spähte nach Wolken; es flog mein Blick nach den Bergen;
Ach! kein helles Fanal leuchtet mehr kündend darauf!
Längst erlosch mir die Glut, die Ilions Fall mir gemeldet,
Tief in der Seele mit ihr starb mir das frohe Vertraun.
Und mein Freund ward die See. Sie machte glanzlos mein Auge,
In das bewegliche Herz zog ihre Unrast mir ein,
Und wie Kunde von Fernen erklingt mir oft ihre Weise,
Sie zu deuten vermag nimmer mein armer Verstand.
So verblüh‘ ich denn einsam. Der Gattin des ratklügsten Mannes
Bleicht in ratlosem Leid langsam das nächtige Haar …

 

Keine Frage: Das sind nur durchschnittliche Hexameter und Pentameter, ein Hinweis von vielen sind da die vier Verse, die mit einer zweisilbigen Einheit beginnen, deren schwere (erste) Silbe mit „Und“ besetzt ist. Aber die Stimmung an sich bringen auch sie recht zuverlässig an den Leser!

Erzählverse: Der Blankvers (104)

In Klabunds „Ben Jonson und der Spitzbube“ fügen sich Blankverse auf eine sehr schöne Art in die Prosaerzählung ein. Erzählt wird von Walter Tracey, der sich, nachdem er in London sein Vermögen durchgebracht hat, als Straßenräuber versucht:

 

Der erste, der ihm auf der Straße vor London in die Hände fiel, war niemand anders als der Dichter Ben Jonson. Dieser zog seine Pistole und apostrophierte den Banditen in dem von ihm erfundenen Blankvers wie folgt:

Du Höllenhund, du Abfall allen Drecks,
Du Jauchetonne, die die Luft verpestet,
Du Schurke, Gauner, Lump und Strolch: entfleuch!
Dass diese Kugel, eisenrohrentsprungen,
Dir nicht die krätz’ge Brust zerreißt, dein Leib
Ein Fraß der wilden Hund‘ und Katzen werde!

Der Räuber, der den Dichter erkannte, parierte seinen Hieb geistesgegenwärtig mit der gleichen Waffe:

Ich habe bessere Verse schon gehört
Und bin vor ihnen nicht davongelaufen.
O schweig, Ben Jonson, schweig und gib klein bei!
(Da du nicht groß beigeben kannst, denn groß
Ist Shakespeare nur, dem seinen Ruhm du neidest.)
Du Schneiderjunge holpriger Trochäen,
Gedankengauner, Dieb an fremdem Geist,
Du Räuber auf den Straßen Phantasias:
Heraus mit deinem Gold! Ich nehme Geld
In Vers und Prosa, wie es eben kömmt.
Doch wehrst du dich mit deiner Donnerbüchse
(Die älter, wahrlich, als der Hammer Thors),
Wird man auf deinem Grabstein lesen können:
Hier liegt Ben Jonson, dessen leere Verse
Den Tod ihm brachten und sein voller Beutel.

Ben Jonson musste sich in jeder Richtung geschlagen bekennen. Er lieferte Tracey seine Guineen aus und ging missmutig seines Weges.

Zwei Freunde

Zwei Freunde, die gesehen haben, was sie gesehen haben, erzählen sich wechselseitig Geschichten.

„Während ein Dichter über einem neuen Gedicht brütet, sterben alle anderen Menschen. Als er fertig ist, will er sein Werk jemandem vortragen und kann es nicht.“

„Zwei Dichter, die beide eben ein Gedicht vollendet haben, begegnen sich. ‚Ich habe ein Gedicht geschrieben‘, sagt der eine; ‚Ah‘, sagt der andere und erschlägt ihn.“

Über den Geschichten der Freunde ist es Nacht geworden, und dunkel; sie schweigen.