Bücher zum Vers (114)

Hans-Dieter Gelfert: Was ist ein gutes Gedicht?

Ein gleich in mehrerer Hinsicht bemerkenswertes Buch; einmal durch den Umstand, dass sich da jemand traut, eine einer Antwort nicht wirklich zugängliche Frage zu beantworten; dann aber auch, weil ein tatsächliches Buch aus dieser Antwort geworden ist – denn wirklich unter den Fingern brennen diese Frage und diese Antwort sicher den wenigsten … Aber da ist es, 2016 bei Beck erschienen, und die „Einführung in 33 Schritten“ (so der Untertitel) nimmt sich dem Problem erfreulich unaufgeregt unter den verschiedensten Gesichtspunkten an, immer auf eine sehr grundlegende Art und Weise. Und gleich, ob man am Ende „Ja“ zu einem der „Schritte“ sagt (was wahrscheinlich ist) oder „Nein“ (was auch vorkommen wird): Mit Gewinn lesen kann man dieses knapp über 200 Seiten umfassende Taschenbuch allemal!

Seinswarum

Ein Gott, der das, was ist, ergreift und es verpflanzt,
Vertiert, und stirbt, was lebt: auf stillen Gräbern tanzt.

Erzählverse: Der Blankvers (121)

Der Bergmann Heinrich Kämpchen schrieb in den Zeiten der Industrialisierung den mit drei Versen sehr knapp-lakonischen Text „Der Gedanke“ :

 

Dampf heißt der Gott des Tages. Die Maschine
ersetzt den Menschen. Nur des Menschen Geist,
den Gottesfunken Denkkraft kann sie nicht ersetzen.

 

Und so war das auch. Heute, über hundert Jahre später, spielt der Dampf eine kleinere Rolle; und ob die Maschinen den „Gottesfunken Denkkraft“ werden ersetzen können, klärt sich vielleicht bald?!

Die Eignung des Blankverses für eher epigrammatische Texte lässt sich an diesem Dreizeiler jedenfalls gut überprüfen!

Erzählverse: Der Hexameter (170)

1828 schrieb Matthias Altmann sein „Oberösterreichisches Georgicon“, und er da er schon in diesem Titel Bezug auf Vergils „Georgicon“ nimmt, beginnt der Text dann auch mit einer Anrufung des alten Römers:

 

Dich, unsterblicher Vergil! Du Sänger lieblicher Lieder,
Der du besangst die Geschäfte des nimmerruhenden Landmanns,
Nachahmen möcht‘ ich dich gern; doch es wohnt in mir nicht die Gottheit,
die den himmlischen Funken in deinem Busen dir nährte!
Nicht Italiens milder Himmel lächelt mir Fernem,
Nicht in Neapels herrlichem Lande glänzt mir die Villa,
Duften Orangen mir nicht die süßesten Wonnegerüche.
Zwar im Schatten der Bäume steht freundlich mein Haus mir gezimmert,
Rings umgeben von fruchtbaren Feldern, mit Bäumen bewachsen,
Und von grünenden Wiesen, die abwärts zum Bache sich dehnen,
Der durch die Erlen sich schleicht. Allein, sei auch unsere Gegend
Noch so lieblich und fruchtbar, sie bleibt nur trockene Prosa
Gegen Italiens Land, und es mag bei süßem Falerner
Und behaglicher Ruh‘ ein Lied wohl eher gelingen
Als bei herbem Most und Kräfte erschütternder Arbeit.

 

Ein Werk, das die Bekanntheit des Vorgängers und Anregers nun gar nicht erreicht hat (und ursprünglich, trotz seiner beachtlichen Länge von 15 Gesängen, auch gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war); und trotzdem gut zu lesen ist und den Hexameter sicher verwirklicht! Manchmal muss man zweimal ansetzen, um die Bewegungslinie zu finden, und manchmal sind halbe, ja sogar ganze Verse eine Ansammlung von vergleichsweise leeren Einsilbern (hier V3), aber insgesamt: doch!

Die Wahl des Versmaßes

Otto Ludwig trug sich lange mit dem Plan, ein Nationalepos zu schreiben. 1860 notierte er sich in diesem Zusammenhang unter anderem einige Überlegungen zum Versmaß:

Schon die Wahl des Versmaßes ist so wesentlich und schwierig! Dann  noch mehr Punkte der Behandlung. Ob naiv oder eingestanden als Kunstgedicht? Am besten beides zugleich; das heißt, die eigentliche Handlung des Gedichts naiv gehalten, die Überblicke deutscher Geschichte und Entwicklung, Ermahnung, Warnung pp. mehr rhetorisch. Das führte schon zur Wahl einer Versart, in welcher beides zusammengeht. Das Ganze darf nichts eigentlich Gelehrtes, in irgendeiner Weise Ausschließliches erhalten, da es ein nationales Gedicht sein muss. Der Hexameter ist plastisch, aber nicht populär. Die achtzeilige Stanze – vielleicht auch die Terzine – bieten sich plastischen und musikalischen Wirkungen und sind zugleich, namentlich die Ottaverime, auch der Rhetorik günstig; die Majestät, in der solch ein Gedicht sich bewegen müsste, würde durch sie nichts weniger als erschwert. Nur wünschte man zu einem deutschen Nationalgedicht eine eigentlich deutsche Versart – wo dann freilich, wählte man auch die Nibelungenstrophe, jene rhetorischen Exkurse sich fremd und schwerfällig ausnehmen möchten. Und doch verbietet sich die rein naive, zu dem Maße stimmende Weise der Darstellung, nicht gerechnet, dass die Nibelungenstrophe wegen ihrer Kürze jene ideale Majestät, den weiten, reichen Faltenwurf, nicht erlauben und auf Dauer durch die zu häufige Wiederkehr langweilig eintönig werden müsste.

Am Ende ist aus dem Epos nichts geworden; aber welche Überlegungen einer längeren Versdichtung vorausgehen, und welchen Versmaßen welche Eigenschaften und Möglichkeiten zugeschrieben werden: Das ist immer wieder spannend zu lesen!

Erzählverse: Der Blankvers (120)

Joseph Seebers „Der ewige Jude“ ist eine etwas eigenartige Ahasver-Erzählung. Aber den Vers, den Seebers schreibt, kann man sich einmal anschauen – aus dem zehnten Gesang:

 

Der Herrscher war ins Heiligtum getreten.
Ein Meer von Wohllaut wogte durch die Hallen;
Süß schmeichelnd stieg der Töne süße Flut
Und legte sich um Herz und Sinn der Menge,
Die bald den ganzen weiten Raum erfüllte.
Zwölf goldne Stufen führten zu dem Hochsitz,
Auf dem der König, nah dem Heiligsten,
Sich niederließ; die fremden Fürsten traten,
Sich tief verbeugend, ihrem Herrn zur Seite
Nach Gunst und Rang; dem Juden aber ward
Der nächste Platz am Thron zu seiner Rechten,
Und stolzer funkelte das Aug‘ des Alten.
Der Sang verstummt, die vollen Orgeltöne
Durchrauschen noch wie Sturmesbraus den Tempel;
Doch leiser wird der Klang, wie sanftes Flüstern
Des lauen Abendwinds im Palmenhain,
Und bald entschlummert auch der letzte Ton.

 

Sehr sichere Verse?! Der Text als solches ist aber  verständlicher, hat man auch das Blankvers-Epos „Ahasver in Rom“ des 25 Jahre älteren Robert Hamerling  im Hinterkopf, das sicherlich die bedeutendere der beiden Dichtungen ist und daher auch hier vorgestellt zu werden lohnt: allerdings erst in einem der nächsten Einträge …

Erzählformen: Das Sonett (20)

Ein zweites Musik-Sonett,  „Streichquartett“ von Max Bruns:

 

Wie sie voll Inbrunst in den Klängen knieen,
Die sie mit breiten Bogenstrichen binden,
Sich selten fliehen und bald wiederfinden
Und, selge Waller, Wunderstraßen ziehen

Und die verschlungnen Gegenmelodien
Zu einem schweren Strauß von Tönen winden;
Und dann, indes die Bässe schweigend schwinden,
Zwei Geigen silbern wie gen Himmel fliehen,

Um, gleich dem Springquell, hoch im Blau verfangen,
Die lichte Kuppe leicht und weich zu wenden
Und zum Bassin der Töne heimzulangen,

Die sie – wie Sieger auf geschmückten Händen –
In breitem Strome wogend warm empfangen
Und froh entspannt nun das Finale spenden!

 

Der erste Vers verlockt zum Weiterlesen (auch das ist eine Kunst, die zumSonett gehört!); tut man es, wird schnell klar, dass hier ein einziger langer und verschachtelter Satz durch sämtliche vierzehn Verse geführt wird. Ob das dem Inhalt gut tut, wer weiß – es ist doch in der Bildlichkeit alles ein wenig blässlich „hinten raus“?! Aber ein gewaltiger sprachlicher „Bogenstrich“, keine Frage!

Wortvergnügt (8)

Wer seinen Wortschatz mit einigen „Vorsilbenwörtern“ erweitern möchte, kann es ja einmal mit „um- + Farbe“ versuchen, in der Bedeutung: „umgeben mit / von“. Einige Beispiele zur Anregung, alle aus alternierenden Gedichten genommen:

 

Umblaut vom Himmel als ein göttliches Gebild – Conrad Ferdinand Meyer

Und auch des Schwarzwalds stets umbraunte Schatten – Adam Gottlob Detlef von Moltke

Mit dem blauen Meeresteppich, zart vom Dünensaum umgelbtJohann Wilhelm Meinhold

Mit warmer Sommerhut umgolden sich die Fichten – Theodor Däubler

Die kalte Flur umgraut die Nacht – Ludwig Gotthard Kosegarten

Doch friedlich soll der Ölzweig sie umgrünenFriedrich Schiller

Umpurpurt alle Höhen schon – Johann Nepomuk Vogl

Noch war die Knospe mild umrötetHermann Rollett

Umschwärzt den Himmel uns mit Ungewittern – Ernst Theodor Johann Brückner

Wie, wann der Tau die Ros‘ umsilbertAdam Gottlob Detlef von Moltke

 

„Umweißen“ gibt es auch, sagen die (alten) Wörterbücher; ich habe auf die Schnelle aber kein schönes Beispiel gefunden …

Wer sich da dann sicher fühlt, wagt vielleicht sogar „zer- + Farbe“?! Das ist allerdings etwas gewöhnungsbedürftiger, wie der folgende, leicht rätselhafte Vers von Theodor Däubler vermuten lässt:

 

Die Rosen entflammen zersilberndem Schleier,

 

Wobei das Gedicht, dem der Vers entnommen ist, „Der Garten“, einiges an selteneren „Vorsilben-Wörtern“ enthält: verinnigen, verjünglingen(!), beträumen, und noch einmal mit „um-„: umrätseln.

Vieles, das versucht werden will!

Das Königreich von Sede (109)

Schemel steht, denn grau ist alles
Und November, in der Küche,
Wartet, nimmt den Topf vom Feuer,
Geht zum Eimer, gießt vom heißen
Wasser ein ins kalte, rührt dann,
Prüft dann mit der Hand – ein wenig
Gibt er nach, bis alles recht ist,
Tritt zurück und sieht drei Frösche
Steifen Beins empor sich werfen,
Auf den Rand zu und hinüber,
Und hinein in warmes Wasser
Spritzt zuerst und schlägt nun Wellen,
Darin still drei Frösche schaukeln,
Missgestimmt und doch zufrieden.