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Wortvergnügt (7)

Mit der Vorsilbe „ent-“ werden, und vor allem: wurden viele schöne Verben gebaut. „Entmuten“ zum Beispiel ist heutzutage ein technischer Begriff; früher stand es oft anstelle von „entmutigen“. Als ich im „Online-Grimm“ dieses Wort nachschaute, fanden sich dort wunderbare „Ent-Verben“ die Menge – „entnasen“ zum Beispiel, das in einem schönen Distichon auftaucht – und dabei gleich einen Freund mitbringt:

 

Alte, verwitterte Steine mit unerklärbaren Schriften,
Urnen voll Asche und Sand, Büsten, entnast und entohrt;

 

– So zu finden in Johann Jakob Jägles „Gedichten“. Die wahrscheinlich unübertroffene Höchstleistung ist in dieser Hinsicht aber die von Friedhelm Kemp stammende Übersetzung eines Verses von Pierre de Ronsard:

 

Je n’ai plus que les os, un squelette je semble,
Décharné, dénervé, démusclé, dépulpé

Ich bin nur noch Gebein, mein eigner Knochenmann,
Entmarkt bin ich, entsehnt, entmuskelt und entfleischt

 

Das hat eine beachtliche Überzeugungskraft!

Von daher: Ruhig einmal darauf achten, was einem so alles an „Ent-Verben“ begegnet beim Lesen; und dann auch den Mut haben, nach eigenem Gefallen neue Vertreter dieser Art selbst zu bilden und einzusetzen!

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Erzählformen: Das Distichon (103)

1893 erschienen Ferdinand von Saars „Wiener Elegien“ und zählten rasch zu seinen erfolgreichsten Dichtungen; heute wirken sie ein wenig veraltet, man kann sie aber noch gut lesen, jedenfalls da, wo der weite Raum der Distichen zur unaufgeregten Schilderung  der Wiener Verhältnisse genutzt wird. Als Beispiel die zehnte Elegie:

 

Sieh, schon wirbeln die Flocken um ragende Dächer; es sausen
Eisige Winde mit Macht durch die rings offene Stadt.
Ja, der Winter ist da! Mit ihm erschienen die Freuden,
Welche der Städter schon längst sommerverdrossen ersehnt.
Alle Theater gefüllt, Applaus erschüttert den Tonsaal –
Und so bewegt sich auch Wien wieder im alten Geleis.
Amt und Geschäft durchkreuzen die Straßen, auf glitschigem Pflaster
Humpelt der Omnibus, rast der Fiaker dahin;
Equipagen dazwischen, von stolzen Trabern gezogen,
Halten vor jedem Palast, wo man Besuche empfängt;
Stattliche Leute zu Fuß vereint der gewohnte Spaziergang,
Wohlig in Pelze gehüllt schreiten sie über den Ring.
Aber vergnüglicher noch hineilen die Schönen zum Eisplatz,
Wo der geschmeidige Wuchs sich am geschmeidigsten zeigt.
Knapp umschließt ihn die wärmende Jacke; auf braunen und blonden
Häuptern sitzen kokett Mützen, mit Zobel verbrämt.
Hui, wie fliegt sich’s dahin auf leicht einritzendem Schlittschuh,
Den mit bebender Hand kniend der Jüngling geschnallt!
Sieh nur den zierlichen Reigen! Es trennen und flieh’n sich die Paare,
Aber in reizendem Bug kehren sie wieder zurück.
Liebliches Meiden und Finden – gemeinsam wonniges Kreisen,
Bis die Dämmerung webt um das lebendige Bild.
Aber da zuckt auch empor das elektrische Licht und umschimmert
Magisch den spiegelnden Plan und die Gestalten darauf.
Ach, wer entfernte sich jetzt? Erstarren die Finger im Müffchen,
Spürt auch das Näschen den Frost – lodert in Flammen das Herz.

 

Sehr anschaulich! Und auch die Verse sind unaufgeregt und sicher gebaut; hier gibt es eine Nachlässigkeit (zum Beispiel einen sehr schwachen zweisilbigen  Versfuß), dort eine Besonderheit (etwa einen geschleiften Spondeus), doch insgesamt ist da ein Eindruck von Ruhe und Verlässlichkeit?!

Und wer einen Vergleich haben möchte: In Klopstocks Schulter (7) steht (unter anderem), was Goethe in „Dichtung  uund Wahrheit“ über das Schlittschuhlaufen zu sagen hat!

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Vorweg

Vorworte und Vorreden von Gedichtbänden sind manchmal lesenswert und manchmal weniger lesenswert; und manchmal sogar lesenswerter als die eigentliche Gedichtsammlung …

Johann Jakob Jägle beginnt seine „Gedichte“ mit einer kurzen, gerade einmal einseitigen Vorrede, die so schließt:

Wer billig ist, legt nicht jedes Wort auf die Waage und weiß Scherz und Laune vom Ernste zu unterscheiden. Wohl gibt es Abderiten, für die keine Nieswurz wächst, und die können mich ungelesen lassen.  Gehabt euch wohl, meine lieben Leser, und ihr, furchtbare Geisel des armen Poeten, liebenswürdige Nachdrucker! nehmt gute, seltene Bücher der Vorzeit unter die Presse und lasst mir meine Arbeit ungehudelt!

Das klingt zumindest … anders?! „Abderiten“ waren der Antike das, was heute die Schildbürger sind – dumme Mensche, Narren und Schelme; Christoph Martin Wieland hat über sie seine wunderbare und sehr empfehlenswerte „Geschichte der Abderiten“ geschrieben. „Nieswurz“ galt derselben Antike als Mittel gegen alle Arten von Geisteskrankheiten. Und die etwas unerwartet auftretenden „Nachdrucker“ waren vielleicht einige Jahre aus dem Geschäft, sind aber im Zeitalter des Internets, leicht anders gewandet, vermutlich nicht weniger tätig als zu Jägles Zeiten.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (73)

Andreas Schumacher erzählt in „Der Brillenschleifer von Antwerpen“ von einem Juden, der inmitten der christlichen Festtagsstimmung des Johannistags versucht, Brillen zu verkaufen, als ihm vor der Kirche eine alte Frau begegnet:

 

„Mutter, kauft von meinen Brillen!“
Doch den Stab erhebt die Alte,
Und den eingeschrumpften Körper
Mit der Kraft nicht ihrer Jahre,
Sondern ihres Zornes streckend,
Schlägt sie mit des welken Armes
Ganzem Grimm des Juden Antlitz.
„Hast du Gott ans Kreuz geschlagen,
Und du gönnst ihm, schlechter Jude,
Nicht die Ruh‘ des heil’gen Tages?
Ahasver! Den Heiland willst du
Ruh’n nicht lassen vor dem Hause!
Steinigt den verfluchten Schacher,
Schlagt in Scherben seine Brillen,
Die, als Satanswerk, für alles
Sehend machen, nur für Gott nicht!“

 

Nun hat die Frau nicht Ahasver vor sich, und der Brillenhändler entkommt den Steinwürfen nur mit knapper Not …

Vom Vers her ist das ganze Stück ein wenig arg prosanah, der Vers als Einheit und Bezugsgröße wird nicht überall erfahrbar; aber in diesen Beispielversen dann doch, denke ich.

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Erzählverse: Der Blankvers (116)

Friedrich Kind lässt seine „Sterbende Äbtissin“ eine Art Lebensbeichte ablegen vor ihren Mitschwestern. Ziemlich an deren Anfang heißt es:

 

Euch ist bekannt, dass ich von hohem Stamme
Entsprossen und der Alten einz’ge Hoffnung.
Ein Jüngling edlen Blutes, edler Sitten
Hat, eh‘ mir noch der Kindheit Lenz verblühte,
Mit heißer Glut sich liebend mir ergeben.
Als Sieger stets bei Schlachten, in den Schranken,
Legt‘ er den Preis entzückt zu meinen Füßen;
Mein Sklave war der freiste aller Ritter!
Und kaum war ich herangereift zur Jungfrau,
Kaum ahnte ich im jugendlichen Busen,
Was Blumenknospen öffnet, Nachtigallen
Befeuert zu der Sehnsucht süßen Liedern;
Da widerstand ich nicht der stillen Bitte
In Guidos Augen, nicht dem eig’nen Herzen.
Im dunklen Hain, bei ferner Blitze Leuchten,
Und fordernd sie zu Zeugen und zu Rächern,
Erwiedert‘ ich den Schwur, dass nichts uns scheide.

 

– Und man ahnt: Das geht nicht gut aus. Vom Versbau her beachtenswert ist die durchgängige Nutzung von weilblichen, also unbetonten Versschlüssen; wenn der Blankvers seinen zufälligen Wechsel von betonten und unbetonten Versschlüssen zu einer Seite hin vereinheitlicht, dass meist zu ausschließlich betonten hin; hier ist das anders und hat auch eine andere Wirkung!

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Gefühlt

Künden will er vom Sturm, von den rasch sich nahenden Fluten:
Gummistiefelbewehrt tritt auf die Lippen ein Kuss.

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Erzählverse: Der iambische Dreiheber (9)

Otto Ludwigs Gedichte sind keine ganz große Dichtung, und seine Jugendgedichte schon gar nicht;  aber vielleicht lohnt gerade darum ein Blick auf den folgenden kleinen Vierzeiler aus dieser frühen Zeit?!

 

Der Lenz bringt neue Blumen,
Der Himmel neue Röten,
Die Fern‘ bringt neue Lüfte,
Ich bring‘ mein altes Herz.

 

Drei wie auch immer gebaute, weiblich (also unbetont) schließende Verse, denen ein vierter männlich (also betont) schließender Vers folgt – das war schon immer ein guter Bauplan für eine Strophe, oder, wie hier, einen vollständigen Text!

x X / x X / x X / x
x X / x X / x X / x
x X / x X / x X / x
x X / x X / x X

Die Endsilben der ersten drei Verse lassen die Sprache fließen und heben gleichzeitig den Versschluss heraus durch das Aufeinandertreffen zweier unbetonter Silben;  die betonte Endsilbe des letzten Verses schließt den Text kräftig und nachdrücklich.

Ansonsten ist wieder einmal hübsch zu sehen, wie wenig es im Aufbau braucht: ein wenig Aufzählung, ein wenig Gegensatz – und fertig …