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Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (22)

Johann Wolfgang von Goethes „Pandora“ ist eine wahre Fundgrube von Versformen. Auch der trochäische Fünfheber kommt vor, zum Beispiel, als Epimeleia Prometheus und Epimetheus erklärt, wie es zu dem Missverständnis zwischen ihr und ihrem Liebsten Phileros kommen konnte:

 

Angelehnt war ihm die Gartenpforte,
Das gesteh‘ ich, warum sollt‘ ichs leugnen?
Unheil überwältigt Scham. – Ein Hirte
Stößt die Tür an, stößt sie auf, und forschend,
Still verwegen, tritt er in den Garten,
Findet mich, die Harrende, ergreift mich,
Und im Augenblick ergreift ihn jener,
Auf dem Fuß ihm folgend. Dieser lässt mich,
Wehrt sich erst und flüchtet, bald verfolgt nun,
Ob getroffen oder nicht? Was weiß ich!
Dann auf mich gewandt, mit Schäumen, Schelten,
Dringt nun Phileros; ich stürze flüchtend
Über Blumen und Gesträuch, der Zaun hält
Mich zuletzt, doch hebet mich befitticht
Angst empor, ich bin im Freien, gleich drauf
Stürzt auch er heran; das andre wisst ihr.

 

Ein sehr lebendiger Bericht, sicher auch durch die Entscheidung, in der Gegenwart zu erzählen! Erstaunlich auch, wie klar jeder Vers als Einheit erkenn- und hörbar wird, obwohl die Sätze doch unter zahllosen Zeilensprüngen durch  die Verse fließen; kaum einmal , dass Vers und Satz zusammen schließen!

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Erzählformen: Siebenzeiler (6)

Wieder einmal steht die Kanzonenform im Blickpunkt: Erster Stollen (zwei Verse), zweiter Stollen (zwei Verse), Abgesang (drei Verse); der Abgesang dabei mit neuen Reimen. Jedenfalls in den allermeisten Fällen! In Mascha Kalékos „Wiedersehen mit Berlin“ (zu finden zum Beispiel in „Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte“, erschienen bei dtv,  auf Seite 83) sind die ersten beiden Strophen siebenzeilig und nach den Kanzonengrundsätzen gebaut – bis auf die Reime, denn die sind beim Abgesang  dieselben wie in den Stollen! Die erste Strophe:

 

Berlin im März. Die erste Deutschlandreise,
Seit man vor tausend Jahren mich verbannt.
Ich seh die Stadt auf eine neue Weise,
So mit dem Fremdenführer in der Hand.
Der Himmel blaut. Die Föhren rauschen leise.
In Steglitz sprach mich gestern eine Meise
Im Schlosspark an. Die hatte mich erkannt.

 

Und es ist schon erstaunlich, wie stark dieser Verzicht auf frische Reime die Kanzonenform verwischt, fast unkenntlich werden lässt …

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Erzählverse: Der iambische Dreiheber (8)

Als Elisabeth Kulmann 1825 mit nur 17 Jahren starb, verlor die deutschsprachige Dichtung ein großes Talent, auf jeden Fall aber eine gewaltige Sprachbegabung – zu diesem Zeitpunkt beherrschte Kulmann bereits elf Sprachen und hatte schon 100.000 Verse geschrieben! Der iambische Dreiheber war dabei eines ihrer liebsten Darstellungsmittel, in „Saphho“ klingt er zum Beispiel (ausschnittsweise) so:

 

O meiner schönen Jugend
Zu schnell entflohne Tage!
Wo ich, der Kunst nur lebend,
Die Zierde war der Feste,
Die Königin der Mähler;
Aus jedem frohen Reigen
Nur meine Lieder hörte;
Auf Blumen durch die Straßen
Beim Zuruf der Bewohner
Die Sängerin einherzog;
Und in den heil’gen Hainen,
Ja in der Götter Tempel
Mein Standbild ich erblickte,
Und Lesbos seinen Münzen
Der Götter Bild und meines
Vereint aufprägte! Sappho,
Des zarteren Geschlechtes
Gerechter Stolz und Sehnsucht
Der Jünglinge und Männer,
Die stets von meiner Jugend
Und meiner Lieder Reizen
Gleich stark gerührt, den Preis mir
Des Kampfes zuerkannten,
Selbst wenn Alcäus kämpfte,
Der König im Gesange!

 

Sichere, gute Verse! Ein wenig atemlos vielleicht, aber das ist ein Eindruck, der sich beim kurzen Dreiheber schnell einstellt, sollen denn mehrere Verse dieser Art einen längeren Satz aufnehmen?!

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Erzählverse: Der Blankvers (115)

Folgende sechs Verse sind aus Michael Enk von der Burgs „Die Blumen“, gleich vorn aus der Ankündigung:

 

Dass keiner meinen Stoff mir niedrig nenne!
Vermag auch nicht im Heldenton die Muse
Ihr Lob zu singen; dennoch sind sie wert,
Dass heiter ihren Preis des Dichters Lied verkünde.
Denn was verdiente mehr des Liedes Preis
Als die, die unschuldsvoll, und zart, und reizend sind?

 

Das liest sich sehr angenehm, die Sprache fließt; was auch an der zwanglosen Art liegt, in der Enk Vier- und Sechsheber einmischt! HIer sind es der vierte und der sechste Vers, beide sind scheshebig; und obwohl man sie ohne großen Verlust fünfhebig halten könnte, schadet diese Erweiterung dem Text doch überhaupt nicht, sondern trägt eher zu seinem Wert bei!

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Aus der Not gekommen

Wenn man in den Briefen der klassischen Schriftsteller herumstöbert, geht es selbstverständlich andauernd um Romane und Gedichte, um das Büchermachen und derlei mehr; aber auch das alltägliche Leben findet sich in reichlicher Menge. Und es ist immer wieder nett zu sehen, wie sich selbst da die Literatur und die Philologie und Sprache und Schrift durch die Hintertür wieder hineinschleichen.

1777 schrieb zum Beispiel Matthias Claudius (den zu lesen in jeder Form, auch im Brief, eine große Freude ist) an Johann Georg Hamann über die Geburt seiner Tochter:

Das Kind heißt Anna Friederica Petrina. Denkt nur um Himmels willen, die eine Frau Gevatterin hieß Prina, was war zu machen. Prina konnte mein Kind doch nicht getauft werden. Wir dachten also in corpore dem Dinge nach und Doktor Mumsen, sonst Oncle Toby genannt, brachte endlich heraus, dass Prina kontrakt und korrupt sei und eigentlich Petrina heißen sollte, und so kam ich aus der Not und mein Kind auch.

Wunderbar … Und das „dem Dinge nachdenken“ ist eine Sache, die man sich vielleicht sogar abschauen kann; klingt das nicht besser und vor allem einleuchtender als „über das Ding nachdenken“?!

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Erzählverse: Der Blankvers (114)

Wer „Atlantis“ sagt, denkt dabei „Untergang“ mit. Wilhelm Fischer-Graz schildert diesen in seinem „Atlantis“, äh, eigenwillig:

 

Aufbrüllend bebt der Felsengrund; der Berge
Eisstarre Gipfel stöhnten schwingend sich
In Chaoswirbel – tiefer rollt’s herauf,
Und Antwort donnert aus dem dunkelrot
Durchgluteten Gewölke. Nahend stießen
Die Weltdämonenheere aufeinander.
Aufklafft den siedend heißen Rachen sperrend
Der Abgrund, Feuerschlammes Wolkendämpfe
Ausspeiend – niederstürzten in die Tiefe
Der Berge eisbedeckte Gipfel donnernd.

 

Und das hält der Verfasser durchaus noch ein Weilchen durch, ehe:

 

Weit prallt, zurückgetrieben, brüllend, hoch
Des Meeres Flut zum Himmel türmend auf
Sich, ebbend eines Riesenwasserberges.
Zerrissen zuckt der Erde Leib noch einmal,
Und angerauscht in Lüften brüllend kam
Die Flut und deckt mit einer Welle – alles.

 

Ja. Warum nicht. Wer mag, kann diese Verse bei Gelegenheit einem geneigten Publikum vortragen – so schräg und unfreiwillig komisch das alles auch klingt, es hat seine Wirkung …

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (72)

Liebster Bruder, ich schicke dir hier einige Späße, denn da das Wetter schon sehr schlecht zu werden anfängt, so darf man das Lachen nicht ganz verlernen.

So Friedrich Schlegel in einem im November 1807 an seinen Bruder August Wilhelm gerichteten Brief; einer der angesprochenen Späße ist mit „Spanisch“ überschrieben, und seine Verse sind die den Romantikern aus dem Spanischen wohlvertrauten trochäischen Vierheber:

 

An dem Quell der Langeweile
Lag die Dichtkunst hingegossen,
Ihre Kinder, die Vokale,
Brachten große Wasserblumen.
Aus den Blumen Funken wurden,
Kleine LIchter funkelnd kamen,
Die, zu Wasser bald erloschen,
Als Romanzen talwärts eilen,
Die nun fließen und nun funkeln
Auf des Klanges leichten Spuren.

 

Ist das „spaßig“? Hm. Aber ein gutes Beispiel für ein Gelegenheitsgedicht ist es allemal, und es zeigt die diesbezüglichen Möglichkeiten des Vierhebers recht deutlich! (Wobei dem Text, insgesamt und von der Bewegung her, der Verzicht auf einige der leblosen „-en“ am Versende sicher gutgetan hätte.)

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Erzählformen: Das Distichon (102)

Wie klingt es, wenn sich das schlichte Sprichwort „Steter Tropfen höhlt den Stein“ den Umhang eines Distichons umwirft, mit all seinem Bewegungswillen und seiner Lust auf die großen Worte?! Nun, bei Emanuel Geibel, in seinen „Distichen von Strande der See“, so:

 

Well‘ auf Welle zerrinnt, in die See rücktriefend, doch endlich
Kommt die Siegerin auch, welche den Felsen zerbricht.

 

Nicht lächerlich, aber sicher lächeln machend ….

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Erzählverse: Der Hexameter (169)

Joseph Friedrich Kepplers „Der Aufstand der Dummheit zu Wien“ ist kein übermäßig beeindruckender Text, der auch in Bezug auf den Versbau nicht herausragt; aber man kann ihn sich schon anschauen … Einige Verse als Beispiel:

 

Und mit klingendem Spiel marschierten die Narren auf Wien zu.
Schon itzt zeigte der Turm sich, der mit erhabenem Stolze
Über die höchsten Gebirge hinaus die Ferne beschauet;
Freudig juchzte die Schaar beim Blick, verdoppelte Schritte
Brachten sie bald vor den Mauren der prächtigen Wienstadt zusammen.
Hier auf Befehl des Königs machten sie halt; die Posaunen
Foderten trotzig die Stadt auf, zur Fahne der Dummheit zu schwören.
Da sie sich weigerte, dieses zu tun (es waren der Weisheit
Gutgesinnte Männer darinnen), so ging ein Befehl aus:
„Wer die Göttin der Dummheit zur Schutzpatronin erwählt hat,
Soll sich sogleich aus der Stadt zu dem Lager der Narren begeben.“
So wie in einem bevölkerten Bienstock die Bienen sich drängen,
Wenn sie die blumichten Felder zum Honigsammeln einladen,
Also drangen in Haufen die Freunde der Dummheit ins Lager,
Aus den Kellern und Böden, Schenken, Palästen und Klöstern,
Bürger und Räte, Doktoren, Petriner und Mönche, kurz alle,
Die schon lange als Stützen der Dummheit in hiesiger Hauptstadt
Rühmlich bekannt sind. (…)

 

Da gibt es zwei, drei Mal ein wenig unsaubere Zäsuren, aber sonst: allemal mit Schwung lesbar! Und abgesehen davon war der Verfasser beim Erscheinen des Werkes 1781 gerade einmal 20 Jahre alt – und der Hexameter ein Vers, der seine „richtige“ Form noch lange nicht gefunden hatte …