0

Eine Begegnung im Park (4)

Dritter Teil

Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte, trafen sich Dr. Sotz und Heinrich erneut an der Parkbank. Der Doktor hatte wieder seinen großen Rucksack dabei, der zum Bersten voll war; Heinrich holte aus seinem bescheideneren Rucksack belegte Brote hervor und eine große Thermoskanne grünen Tees, und während es langsam hell wurde, frühstückten die beiden schweigend.

Schließlich ging Dr. Sotz daran, seinen eigenen Rucksack auszupacken, und förderte neben dem Spielzeugroboter noch ein Dutzend weiterer kleiner Roboter zu Tage, bewaffnet mit Spitzhacken und Schaufeln; die sahen seltsam aus.

„Haben Sie sich etwa die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, um diese Kerlchen zu bauen?“, frage Heinrich.

„Das hätte ich vermutlich getan, hätte ich kein Hirn … Ich habe aber eins und daher lieber den einen Roboter, den ich schon hatte, so umgebaut, dass er das Dutzend Gräber bauen konnte; und bin Schlafen gegangen.“

„Und angesichts der zahlreichen roten Zipfelmützen und weißen Rauschebärte nehme ich an, ihr blecherner Handlanger hat dabei die Gärten der Nachbarschaft geplündert?“

„Erstens ist das aus geschmacklichen Gründen eine Tat, für die alle Nachbarn mir danken sollten; zweitens werde ich ihnen, wenn wir hier fertig sind, ihre Gartenzwerge zurückerstatten und denke, sie werden diese bei der Gartenpflege als nützlich empfinden. Jetzt aber los!“

Dr. Sotz verteilte die Roboterzwerge an der Stelle, unter der er die Ursache für all die Seltsamkeiten der vergangenen Tage vermutete, und sofort begann das eifrige Dutzend, sich schaufelnd und hackend in die Tiefe zu arbeiten.

Der Spielzeugroboter schaffte die Erde beiseite, und schon bei den ersten kleinen Erdbewegungen gab er erneut Wörter zum Besten:

„Schraubstock … Bahnsteig … Rundfunk … Grundzweck …“

Dr. Sotz und Heinrich sahen dem geschäftigen Treiben nebeneinanderstehend zu. „Es ist bisher nur eine Vermutung, aber wenn sie zutrifft, werden die Wörter, die er ‚empfängt‘, mit zunehmender Grabtiefe älter werden; die älteren Erdschichten entsprechen dabei älteren Sprachschichten, wenn sie so wollen!“

„Kopfschmuck … Singsang … Schwermut … Kriegsknecht … Stammsitz … Jagdhund …“

„Hören Sie, Heinrich! Es scheint wirklich in diese Richtung zu gehen!“

„Schiffsbauch … Eiland … Seemann … Fockrüst … Sturmbö … Kreuztopp … Sandglas … Klarschiff … Wundarzt … Lotgast … Beiboot … Großmast …“

„Nanu!“, murmelte Dr. Sotz und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den kleinen Roboter. „Seefahrtsausdrücke?“

„Dass mir gut Richtung genommen wird!“

„Das ist seltsam, Heinrich … Unsere Stadt hat doch nie Verbindungen zur Seefahrt gehabt – oder doch?!“

„Warten, bis ihr das Ziel vor Kimme und Korn habt!“

„Sie sind mir keine wirkliche Hilfe, Heinrich – und überhaupt, was reden Sie da die ganze ZeiUMPFF!“

Dr. Sotz presste es sämtliche Luft aus der Lunge, als Heinrich, „Runter!“ schreiend, ihn ansprang und zu Boden riss, gerade noch rechtzeitig, ehe es hinter ihnen gewaltig losdonnerte! Der verdutzte Wissenschaftler verspürte einen scharfen Luftzug oberhalb seiner Denkerstirn (die wenigen verbliebenen Haarsträhnen tanzten wild umher), und über die Schulter blickend bemerkte er einen in Pulverqualm gehüllten Achtzehnpfünder, wie er um 1800 in Gebrauch war, und Seeleute, die um die Kanone herumwuselten, all das aber seltsam verschwommen und farblos.

Fünfter Teil

0

Erzählformen: Die alkäische Strophe (14)

Nach  Alkäus, dem „Erfinder“ der alkäischen Strophe, und Horaz, der die Form so meisterhaft gehandhabt hat, muss nun eigentlich Klopstock vorgstellt werden und eine seiner alkäischen Oden. Allerdings lesen sich diese heutzutage doch recht seltsam; und lang sind sie im allgemeinen auch … Ich belasse es daher bei zwei Strophen aus „Verschiedne Zwecke“, der sechsten und der siebten:

 

Gleich einer lichten Wolke mit goldnem Saum
Erschwebt die Dichtkunst jene gewölbte Höh‘
Der Heitre, wo, wen sie emporhub,
Reines Gefühl der Entzückung atmet.

Auch wenn sie Nacht wird, flieht der Genuss doch nicht
Vor ihren Donnern; feuriger letzt er sich!
Drauf schwebt sie, schöner Bläue nahe
Nachbarin, über dem Regenbogen.

 

Ja. So ist sie, die Dichtkunst … „Letzen“ meint „sich erquicken“, „sich erfreuen“?! Aber wenn man sich von der eigenartigen Bildlichkeit löst und der Bewegung nachhört, stellt man fest, dass Klopstock den Satz sicher durch die Strophe führt, mit etwas Spannung, aber nicht zuviel; und alles einen festen, schönen Klang hat.

Aber selbst wenn seine Oden heute nicht mehr recht verständlich sind – die Leistung, die antiken Formen endgültig für die deutsche Dichtung gewonnen zu haben, kann Klopstock niemand mehr streitig machen!

0

Bücher zum Vers (64)

Peter von Matt: Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte.

Diesen zuletzt 2001 bei dtv erschienenen Band kann man sicher uneingeschränkt empfehlen. Er enthält eine Vielzahl von Texten, Gedichtinterpretationen zum Beispiel ebenso wie Dichter-Porträts, und deckt dabei die ganze Bandbreite der deutschen Dichtung ab, auch zeitlich.

Mit am spannendsten aber sind die 80 Seiten des ersten Teils, der „Die Lyrik im Verdacht“ überschrieben ist und den Untertitel „Zur Anthropologie des Gedichts und zum Ärgernis seiner Schönheit“ führt; und in dem es manches überraschende zu lesen gibt. Einige Zeilen daraus, auch, um einen Eindruck davon zu geben, auf welche Art von Matt hier schreibt (S.11-12):

Das Gedicht ist ein Ereignis wie ein schießender Stern oder der Schrei aus dem eigenen Mund, an dem wir in der Nacht erwachen. Wenn dieses Ereignis seinem innersten Willen nach schön sein will, was soll es selbst sich darum kümmern? Ein Problem, und ein dorniges, bitteres, stellt die Tatsache erst für jene dar, die über Gedichte zu reden haben. Sie nämlich dürfen das simple Faktum nicht aussprechen, weil sie sich sonst selber vor einer wachsamen Öffentlichkeit der Verlogenheit schuldig machen. Weil „schön“ nicht „wahr“ sein kann, vertritt, wer eine bestimmte Kunst von ihrem Willen zur Schönheit her definiert, eine faule und falsche Ästhetik, eine Ästhetik der Lüge. Er spricht der Kunst den Willen zur Wahrheit ab, entlässt sie überhaupt aus der Pflicht zur Wahrheit und macht sie zum Luxus. Wir aber brauchen doch die Wahrheit. Wir brauchen die Kunst, weil wir die Wahrheit brauchen. Und was nicht gebraucht wird und dennoch da ist und gefallen will, ist Luxus. So hängen Lüge und Luxus im Verdacht gegen die Lyrik zusammen. So ist aller Verdacht gegen die Lyrik ein entschieden moralischer.

– Da lohnt es sich nicht nur, über das Gesagte nachzudenken; sondern ich finde, das Lesen macht auch viel Freude.

0

Eine Begegnung im Park (3)

Zweiter Teil

Dr. Sotz begann, Bauteile und Werkzeuge zurück in den Rucksack zu packen.

„Wissen Sie, Heinrich – ich glaube, aus irgendwelchen Gründen beginnt die Welt, sich an diesem Ort anders zu ordnen; alte Verbindungen und Muster lösen sich auf, neue bilden sich … und das auch in der Sprache! Versuchen Sie doch einmal, ruhig zu werden – leeren Sie ihren Geist, na Sie wissen schon, das ganze Programm halt.“

Heinrich schüttelte erheitert den Kopf. „Was denn, der berühmte Wissenschaftler Dr. Sotz – auf der Esoterikwelle?! Dass ich das noch erleben darf! Warten Sie, bis ich das den Kumpels erz…“

Eben da trat Dr. Sotz Heinrich mit einem gemurmelten „Es geht selbstredend auch anders“ kräftig in den Hintern.

Heinrich stolperte, fing sich und fuhr wütend zum Doktor herum – „Schwachkopf!“, schrie er, und „Weinschlauch, Kuhhirt, Plattfuß, Filzlaus, Nachttopf! Krückstock, Kleinholz, Bluttat, Grabstein!“ rufend stürmte er auf den Doktor zu.

Sotz aber wich, begütigend die Hände hebend, zurück und sagte freundlich: „Scheinbar. Klaglied, Rückkehr, Alltag.“

Der Spielzeugroboter wandelte zwischen ihnen hindurch und sagte: „Mor.“

Das war genug, um Heinrich wieder zu Sinnen kommen zu lassen; er hielt an und fasste sich an die schmerzende Rückseite. „Warum haben Sie das getan?“

„Es sollte Sie aus dem Gewöhnlichen herauslösen, aufnahmebereit machen; und mich auch. Und es hat geklappt! Wie sonst ließe sich das Kauderwelsch erklären, das Sie und ich da im Zustand höchster Erregung geredet haben?!“

„Hm“, machte Heinrich. „Da soll mich doch … Was geht hier vor?“

„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte Dr. Sotz; „Hirnschmalz“, sagte der kleine Roboter. Dr. Sotz nahm ihn, packte ihn ganz oben in den Rucksack, schloss diesen und schulterte ihn ächzend.

„Aber wenn Sie morgen beim ersten Licht hier sein könnten; dann wollen wir der Sache gemeinsam auf den Grund gehen!“

Heinrich sagte entschlossen zu, und der alte Wissenschaftler verabschiedete sich und ging.

Vierter Teil

5

Erzählverse: Der Hexameter (90)

Johann Heinrich Voss und Ludwig Hölty (2)

In (21) tauchten die beiden zuerst auf; wer sich ihrer nicht mehr erinnert, kann ja dort einmal vorbeischauen? Hier möchte ich nur kurz einen einzelnen Vers aus einer Handschrift Höltys gegenüberstellen der Fassung, die er in der von Voss betreuten Buchausgabe erhalten hat. In „Der arme Wilhelm“ heißt es in der Handschrift:

 

Und ein fliegender Lichtglanz flog durch die Fenster der Kirche.

 

Das ist einmal inhaltlich etwas verwunderlich – etwas „fliegendes“ „flog“?! Es ist aber auch im Versbau wacklig: Die Zäsur liegt hinter „flog“, aber eigentlich möchte man sie hinter „Lichtglanz“ lesen; der erste Versfuß ist sehr schwach, da zweisilbig und mit Leerwörtern besetzt. Allen drei Mängeln hilft die Fassung der Buchausgabe ab!

 

Und die erleuchteten Fenster durchfuhr ein fliegender Lichtglanz.

 

Viel besser! Die Dopplung ist raus, die Zäsur hinter „Fenster“ (oder, wenn man mag, hinter „durchfuhr“) ist verständlich und im Vortrag darstellbar; Der erste Fuß hat zwar immer noch ausschließlich „Leersilben“, ist aber nun dreisilbig, wodurch er doch zumindest ausreichend Gewicht und Dauer bekommt; und schließlich ist der „Lichtglanz“ ans Ende des Verses gerückt, wo er durch die beachtlich schwere Schluss-Silbe „-glanz“ den leichten, bewegten Vers volltönend zur Ruhe bringt.

Man sieht: Die Arbeit am Vers lohnt …

(Gefunden habe ich die beiden Fassungen in Walter Hettche (Hrsg.): Ludwig Christoph Heinrich Hölty. Gesammelte Werke und Briefe. Kritische Studienausgabe. Wallstein 1998., ein Umstand, den ich anmerke, weil mir diese Ausgabe wirklich sehr gut gefällt!)

0

Eine Begegnung im Park (2)

Erster Teil

Als Heinrich am nächsten Tag in den Park kam, saß Dr. Sotz wieder auf seiner Bank. Diesmal hatte er seinen großen Werkzeugrucksack dabei, und überall auf der Bank und um sie herum lagen elektronische Bauteile, und mechanische, und Heinrich gänzlich unbekannte; samt Werkzeugen der verschiedensten Sorten, gängigen wie wundersamen.

Der Wissenschaftler war gerade damit beschäftigt, sich ein Pflaster um den linken Zeigefinger zu wickeln, als er des nahenden Heinrichs gewahr wurde; schnell legte er den Zeigefinger auf die Lippen, Heinrichs Schweigen einfordernd, und wies dann hinter die Bank, wo der Spielzeugroboter lang hingestreckt lag, den Kopf an einen Maulwurfshügel gepresst; und lauschte.

Eine Minute ging schweigend dahin, dann noch eine; schließlich begann der kleine Roboter zu sprechen.

„Mor“, sagte er leise; dann, schon etwas lauter, „Mor tanna mor mor tanna tara mor mor“, und endlich, wohl- und weittönend: „Tanna mor mor mor tara tanna mor mor mor!“; und Stille.

„Wissen Sie, Heinrich“, sagte Dr. Sotz, „gestern war ich sehr stolz auf das, was mein Roboter zuwege gebracht hat; doch heute Nacht, als ich noch einmal über alles nachdachte, fiel mir auf, er hat Dinge getan, die er mit dem, was ich in ihn eingebaut habe, nicht hätte tun können.“

„Wie aber dann?“, fragte Heinrich.

„Das ist die große Frage … Ich denke, es hat mit diesem Ort zu tun; mit dem Boden, wahrscheinlich. Also habe ich den kleinen Kerl noch einmal gründlich umgebaut und auf Spurensuche losgeschickt!“

„Weswegen er jetzt den Maulwürfen zuhört?!“

„Möglicherweise, eher aber etwas, das durch die Maulwurfsgänge nach oben schwingt und klingt; die Maulwürfe scheinen alle fort zu sein.“

„Dr. Sotz, es ist wunderbar mit Ihnen – da liegt der Stadtpark ruhig und still im mildesten Herbstlicht, und sie entdecken geheimnisvollste Geheimnisse nur eine Maulwurfgangslänge unter dieser Idylle! Gerade wird in der Stadt ja viel über Grundstückspreise geredet, meinen Sie, es lohnt, sich da einmal schlau zu machen?!“

Der Spielzeugroboter war aufgestanden und sah die beiden Männer an. „Mor mor mor tanna mor tanna tara mor mor“, sagte er.

„Das kann schon sein“, sagte Dr. Sotz an Heinrich gewandt. „Nur – wollen wir kaufen, oder wollen wir verkaufen?“

Dritter Teil

0

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (37)

Den „Stapfen“ des Schweizers Conrad Ferdinand Meyer möchte ich „Erinnerung“ an die Seite stellen, verfasst vom zwanzig Jahre älteren Schwaben Eduard Mörike. Sind es Meyer die Blankverse, so sind es bei Mörike die tröchäischen Vierheber; auch sie sehr regelmäßig, man hat beim lauten Lesen oft Mühe, nicht zu prosaisch im Ton zu werden!

Hier also Mörikes junge Frau auf ihrem Weg, in Begleitung eines jungen Mannes, bei Regen:

 

Erinnerung
An C.N.

Jenes war zum letzten Male,
Dass ich mit dir ging, o Clärchen!
Ja, das war das letztemal,
Dass wir uns wie Kinder freuten.

Als wir eines Tages eilig
Durch die breiten, sonnenhellen,
Regnerischen Straßen, unter
Einem Schirm geborgen, liefen;
Beide heimlich eingeschlossen
Wie in einem Feenstübchen,
Endlich einmal Arm in Arme!

Wenig wagten wir zu reden,
Denn das Herz schlug zu gewaltig,
Beide merkten wir es schweigend,
Und ein jedes schob im stillen
Des Gesichtes glühnde Röte
Auf den Widerschein des Schirmes.

Ach, ein Engel warst du da!
Wie du auf den Boden immer
Blicktest, und die blonden Locken
Um den hellen Nacken fielen.

„Jetzt ist wohl ein Regenbogen
Hinter uns am Himmel“, sagt ich,
„Und die Wachtel dort im Fenster,
Deucht mir, schlägt noch eins so froh!“

Und im Weitergehen dacht ich
Unsrer ersten Jugendspiele,
Dachte an dein heimatliches
Dorf und seine tausend Freuden.
– „Weißt du auch noch“, frug ich dich,
„Nachbar Büttnermeisters Höfchen,
Wo die großen Kufen lagen,
Drin wir sonntags nach Mittag uns
Immer häuslich niederließen,
Plauderten, Geschichten lasen,
Während droben in der Kirche
Kinderlehre war – (ich höre
Heute noch den Ton der Orgel
Durch die Stille ringsumher):
Sage, lesen wir nicht einmal
Wieder wie zu jenen Zeiten
– Just nicht in der Kufe, mein ich –
Den beliebten ‚Robinson‘?“
Und du lächeltest und bogest
Mit mir um die letzte Ecke.
Und ich bat dich um ein Röschen,
Das du an der Brust getragen,
Und mit scheuen Augen schnelle
Reichtest du mir’s hin im Gehen:
Zitternd hob ich’s an die Lippen,
Küsst es brünstig zwei- und dreimal;
Niemand konnte dessen spotten,
Keine Seele hat’s gesehen,
Und du selber sahst es nicht.

An dem fremden Haus, wohin
Ich dich zu begleiten hatte,
Standen wir nun, weißt, ich drückte
Dir die Hand und –

Dieses war zum letzten Male,
Dass ich mit dir ging, o Clärchen!
Ja, das war das letztemal,
Dass wir uns wie Kinder freuten.

 

Als ich „Erinnerung“ zum ersten Mal gelesen habe, war ich noch ziemlich jung an Jahren, und der Text hat mich damals, das weiß ich noch, nicht übermäßig beeindruckt. Aber wie mit so vielen Texten Mörikes, so auch mit diesem: Liest man sie mehr als einmal, werden sie vertraut, und dann merkt man, was für wunderbare Gedichte sie sind!

0

Erzählverse: Der Blankvers (54)

Der Blankvers hat, wie schon häufig festgestellt, viele Freiheiten; sie gehören zu seinem Wesen. Insofern sind Texte, in denen die Verse ausnahmslos zehn Silben haben und damit immer betont enden, eigentlich schon eine besondere Spielart des Blankverses?!

Einer, der mit dieser Spielart aufs feinste umgehen konnte, war Conrad Ferdinand Meyer, er kam hier ja schon mit derartig aufgebauten Texten vor in (17) und in (40).  In diesem Eintrag möchte ich ein weiteres Stück von ihm vorstellen, „Stapfen“; es ist etwas länger, und die Einförmigkeit des Verses kommt dadurch noch deutlicher zum Tragen, sein ruhiger Gang tritt noch stärker hervor – und das passt wunderbar zum vermittelten Inhalt!

 

In jungen Jahren war’s. Ich brachte dich
Zurück ins Nachbarhaus, wo du zu Gast,
Durch das Gehölz. Der Nebel rieselte,
Du zogst des Reisekleids Kapuze vor
Und blicktest traulich mit verhüllter Stirn.
Nass ward der Pfad. Die Sohlen prägten sich
Dem feuchten Waldesboden deutlich ein,
Die wandernden. Du schrittest auf dem Bord,
Von deiner Reise sprechend. Eine noch,
Die läng’re, folge drauf, so sagtest du.
Dann scherzten wir, der nahen Trennung klug
Das Angesicht verhüllend, und du schiedst,
Dort wo der First sich über Ulmen hebt.
Ich ging denselben Pfad gemach zurück,
Leis schwelgend noch in deiner Lieblichkeit,
In deiner wilden Scheu, und wohlgemut
Vertrauend auf ein baldig Wiedersehn.
Vergnüglich schlendernd sah ich auf dem Rain
Den Umriss deiner Sohlen deutlich noch
Dem feuchten Waldesboden eingeprägt,
Die kleinste Spur von dir, die flüchtigste,
Und doch dein Wesen: wandernd, reisehaft,
Schlank, rein, walddunkel, aber o wie süß!
Die Stapfen schritten jetzt entgegen dem
Zurück dieselbe Strecke Wandernden:
Aus deinen Stapfen hobst du dich empor
Vor meinem innern Auge. Deinen Wuchs
Erblickt’ ich mit des Busens zartem Bug.
Vorüber gingst du, eine Traumgestalt.
Die Stapfen wurden jetzt undeutlicher,
Vom Regen halb gelöscht, der stärker fiel.
Da überschlich mich eine Traurigkeit:
Fast unter meinem Blick verwischten sich
Die Spuren deines letzten Gangs mit mir.

 

„Ruhiger Gang“ meint nun aber keineswegs, die Verse wären langweilig – Meyer hat viel Abwechslung drin, das Ohr bekommt immer neue Beschäftigung, und einmal, in der „Wesensbeschreibung“ und gleich danach, wird der Vers auch so kräftig, wie es Blankvers-Texte oft durchgängig sind; und auch das passt und fügt sich. Ein beeindruckendes Gedicht!