Erzählverse: Der Hexameter (23)

Hexameter und… (1)

Der Hexameter ist ein erzählender Vers – jedenfalls, solange ein Hexameter an den anderen gehängt wird. Dann strömt die Handlung durch den einzelnen Vers wie durch die Menge der aufeinanderfolgenden Verse, und ehe man sich’s versieht, ist ein ganzes Epos hier geschrieben, dort gelesen.

Was aber, wenn man mehr lyrisch als episch dichten möchte! Muss man da auf den Hexameter verzichten?

Nicht unbedingt. Ein gangbarer Weg ist da die Verbindung des Hexameters mit einem anderen Vers, um so eine aus zwei Versen bestehende Einheit zu schaffen, die dem Gedicht dann mehr Halt gibt; die das „sich Verströmen wollen“ des Hexameters eindämmt, wenn man so will.

Welche Form dieser zweite Vers hat, ist dabei recht beliebig. Das bekannteste Beispiel ist sicher der Pentameter, der sich mit dem Hexameter zum elegischen Distichon verbindet, aber die Dichter haben auch viele andere Möglichkeiten erprobt, von denen ich hier im Faden nach und nach einige vorstellen möchte.

Den Beginn macht Friedrich Gottlieb Klopstock, also der Urvater des deutschen Hexameters – aber eben nicht nur dessen Urvater, sondern auch der vieler anderer Ideen. In „An Ebert“ verbindet er den Hexameter mit diesem dreihebigen Vers:

X x (x) / X x x / X

Dabei meint „(x)“ wie immer eine unbetonte Silbe, die stehen kann, aber nicht stehen muss. Meistens steht sie, wie in den unten folgenden Beispielen; ein Beispiel für ihr Fehlen:

 

So erstarb auch mein Blick!

 

So er- / starb auch mein / Blick!

Einige Beispiele, die verdeutlichen sollen, wie diese Zusammenarbeit zwischen Hexameter und Zweitvers aussehen kann:

 

Lindernde Tränen, euch gab die Natur dem menschlichen Elend
Weis‘ als Gesellinnen zu.
Wäret ihr nicht, und könnte der Mensch sein Leiden nicht weinen;
Ach! wie ertrüg‘ er es da!

 

Weggehn muss ich, und weinen heißt es kurz zuvor – das waren eben Zeiten, in denen auch Männer noch offen weinen durften. Grund der Klage sind die vielen Gefährten, die, wenn sie gestorben sind, Klopstock und Ebert alleine zurücklassen werden:

 

Wenn sich unser Vater zur Ruh, sich Hagedorn hinlegt;
Ebert, was sind wir alsdann,
Wir Geweihten des Schmerzes, die hier ein trüberes Schicksal
Länger, als Alle sie ließ?

 

Hagedorn, unser Vater? Muss man den heute kennen?! Nein. Aber schaden tät’s auch nicht, ein paar gelungene Gedichte gibt es schon von ihm. Schön zu sehen jedenfalls, wie die Kurzverse helfen, jeweils zwei klar unterscheidbare Untereinheiten von je zwei Versen zu schaffen! Beim elegischen Distichon (Hexameter + Pentameter) gilt es als angebracht, diese Einheiten auch inhaltlich zu beachten, und im besonderen keinen neuen Gedanken im Pentameter anzufangen und im Hexameter fortzusetzen – klar: die Grundeinheit ist eben erst ein Hexameter, dann ein Pentameter, und wofür soll diese Grundeinheit den Text vorbilden, wenn man dieser Bildung dann inhaltlich nicht folgt! Verwendet man aber, wie hier Klopstock, kürzere Verse als Zweitverse, ist dieses „zur Deckung bringen“ natürlich etwas schwieriger. Das wird hier schon erkennbar, und am Schluss des Gedichts verliert dann alles den Halt:

 

Finstrer Gedanke, lass ab! lass ab in die Seele zu donnern!
Wie die Ewigkeit ernst,
Furchtbar, wie das Gericht, lass ab! die verstummende Seele
Fasst dich, Gedanke, nicht mehr!

 

Wie immer bei Klopstock löst sich jede Ordnung in Bewegung und Empfindung auf… Ich fürchte, das ist eine Art Dichtung, die uns sehr fremd geworden ist, aber gut gemacht ist es trotzdem. Finde ich. Auch, weil die Ordnung ja nur scheinbar verloren geht …

Geschrieben hat Klopstock „An Ebert“ 1748, also mit 24 Jahren (!), und all die Menschen, die er anführt in seinem Gedicht, lebten da noch; am Schluss kam es aber, wie er es beschrieben hatte, und Ebert und er blieben allein zurück. Und auch die Verse

 

Stirbt dann auch Einer von uns, und bleibt nur Einer noch übrig;
Bin der Eine dann ich;

 

bewahrheiteten sich: Ebert starb 1795, 47 Jahre nach Entstehung des Gedichts, im Alter von 72 Jahren; Klopstock lebte noch bis 1803, ehe er 79jährig starb.

Frühlingswiese

Eine Wiese.
Hinz. Kunz.

HINZ
Den Frühling lass uns preisen, Kunz, mit Liedern,
dergleichen man noch nie vernahm!

KUNZ
Au ja!

(singt)
Die Sonne lacht, die Vöglein singen,
und aus der warmen Erde dringen
die Blumen, streben auf und blühen
und ahnen nichts von all den Kühen.

HINZ
Welch herrlich schönes, würdiges Lied! Jetzt ich!

(singt)
Die Bienen summseln durch die Lüfte,
und suchen hier und suchen da,
und stemmen’s Fäustchen in die Hüfte:
Die Blumen sind nicht länger da!

KUNZ

Wie trostlos ging es zu in dieser Welt,
wenn dein Genie nicht wär – zusammen jetzt!

HINZ und KUNZ

(singen zusammen)
Ihr lieben Bienchen, seid nicht traurig,
man fraß die Blumen, das ist wahr,
das ist zwar schrecklich und auch schaurig –
doch Frühling wird’s in jedem Jahr!

(Beide tänzeln zur Nachbarwiese, sich aus Blumen Ehrenkränze zu flechten und einander aufzusetzen)

Die Bewegungsschule (10)

Die letzte Gestaltungsmöglichkeit von Bedeutung ist die Änderung der Verslänge, was in unserem Fall meint: Der Vers wird verkürzt. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten:

– Immer mal wieder wird ein Halbvers eingestreut zwischen die Vollverse; also ein Kurzvers der Form „ta ta TAM ta ta TAM„. Wie bei allen Möglichkeiten zur Auflockerung gilt: Bitte mit Augenmaß verwenden!

– Inhaltlich passend wir eine Reihe von ungefähr fünf bis acht Vollversen mit einem verkürzten Vers geschlossen. Dieser „Schlussvers“ sieht so aus:

ta ta TAM ta ta TAM ta ta TAM ta

Er hat also keine feste Zäsur! Außerdem dürfen nicht alle „ta ta“ durch ein „TAM“ ersetzt werden, sondern nur das erste am Versanfang.

Die beiden Möglichkeiten lassen sich auch zusammen nutzen – ein gar nicht so seltenes Abschnittsende besteht aus drei Versen, einem Halbvers, einem Vollvers, einem Schlussvers:

ta ta TAM ta ta TAM
ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM
ta ta TAM ta ta TAM ta ta TAM ta

– Sehr geeignet, um zu Beispiel das Ende eines Kapitels oder des ganzen Textes herauszuheben! Ich nehme als Beispiel einen acht Verse langen Abschnitt aus meinem Übungsheft:

 

„Das ist lecker!“ – vergnügt füllt Schemel den Rest
Des Rhabarberkompotts in die Schüssel, und isst
Mit Behagen; dann legt er den Löffel beiseit,
Rülpst, patscht sich den Bauch und vergisst, was da kommt,
Unvermeidlich: der Krieg, und der Leichengeruch
Im verwüsteten Land,
Und die Gräber, darin der Verhungerten Heer:
Sind den einen Moment lang vergessen.

 

Da sind die letzten drei Verse so gebaut. „Mitten im Text“ reicht aber auch ein einzelner Schlussvers, um einen Abschnitt zu schließen!

„Vergessen“, „ta TAM ta“ – auch der Schlussvers bietet also die Möglichkeit, das „ta TAM ta“ unterzubringen, so wie alle anderen Wörter und Sinneinheiten auch, die auf „- TAM ta“ enden.

Einen Blick wert vielleicht auch noch dieser Vers:

Mit Beha– / gen; dann legt || er den Löf– / fel beiseit,

So sieht er jedenfalls im „strengen“ Metrum aus; betrachtet man die Sinneinheiten, sieht man, dass die Zäsur wahrscheinlich um eine Silbe nach hinten verschoben ist, wie das in (9) vorgestellt wurde:

Mit Behagen; / dann legt er || den Löffel / beiseit,

Fällt, wie hier, die eigentliche, die „Grund“-Zäsur mit einem Wortschluss zusammen, hat man im Vortrag mehr Möglichkeiten!? Liest man die Grund-Zäsur, rückt das „er“ in die zweite Vershälfte, es entsteht Spannung; liest man nach Sinneinheiten, ist der Vers entspannter, auch wegen der beiden einander folgenden „ta TAM ta“. Da muss jeder schauen, wie er das machen will; ich für meinen Teil bemühe mich, die Grundzäsur zumindest durch einen Wortschluss kenntlich zu machen, „im Vers zu lassen“.

Eine Möglichkeit, den Schlussvers zu üben, ist sicherlich das Verfassen von Distichen, Zweiversern bestehend aus Vollvers und Schlussvers:

 

Wie der kürzere Vers nach dem längeren wirkt,
Lernt rasch sich; man muss sie nur schreiben …

 

Ansonsten kann, wer mag, die acht Übungsverse oben in metrische und vor allem Sinneinheiten zerlegen; unter die Motorhaube schauen, sozusagen, und prüfen, ob alles rechtens ist.

Erzählverse: Der Blankvers (25)

Der Blankvers ist auch genutzt worden, um Dichtungen fremder Sprachen ins Deutsche zu holen. Auch nach bald 250 Jahren ist für mich Christoph Martin Wielands Übersetzung von Horaz‘ „Satiren“ ein wirklich gelungenes Beispiel dafür. Aus der vierten Satire des ersten Buchs:

 

Vor allen Dingen nehm‘ ich aus dem Häufchen,
dem ich den Dichternamen zugestehen möchte,
mich selber aus. Dazu gehört schon mehr
als einen runden Vers zu drehen wissen;
und wer, wie ich, in einer Sprache, die
so nah an die gemeine angrenzt, schreibt,
ist darum lange noch kein Dichter. Dem,
der Dichtergeist, der eine mit den Göttern
verwandte Seele hat, und dessen Mund
erhabene Gedanken und Gefühle
in mächt’gen Tönen ausströmt, dem allein
gebührt die Ehre dieses schönen Namens.

 

Eigentlich hat Horaz Hexameter geschrieben; seine Wahl, diese in „Freie Jamben“ zu übertragen, begründet Wieland so:

Der freie Jambus scheint geeigneter, dem Leser einen Begriff von der Leichtigkeit, Kunstlosigkeit und oft mit Fleiß gesuchten Nachlässigkeit des Horazischen Hexameters zu geben, und ungefähr dieselbe Wirkung auf deutsche Ohren, wie die Verse des Originals auf lateinische, zu machen. Ich sage mit Bedacht, der freie Jambus: eine Versart, worin ich zehn- und elfsilbige Verse häufig mit zwölf- und dreizehnsilbigen (soviel möglich ohne Abschnitt nach der sechsten Silbe) vermische, und dadurch ein Silbenmaß erhalte, das der Prosa sehr nahe kommt, und, ohne so ungebunden zu sein wie das Metrum der lateinischen Komödienschreiber, doch frei genug ist, um sich beinahe jedem Gedankenschwunge, jeder Wendung des Ausdrucks wie von selbst anzuschmiegen, und (wenn man anders die Kunst sie recht zu lesen versteht) dem Ohre, zu eben der Zeit, da es eine kunstlose Rede in dem gewöhnlichen Gange der Sprache des Umgangs zu hören glaubt, gleichwohl das kleine Vergnügen, das aus leiser und ununterbrochner Wahrnehmung des Rhythmus entsteht, in einem desto höhern Grade gewähret, je mehr Mannigfaltigkeit und Abwechselung dadurch in diese Art von Silbentanz gebracht wird.

Ich denke, da die „zehn- und elfsilbigen Verse“ doch bei weitem in der Überzahl sind, kann man immer noch von Blankversen reden?! Jedenfalls gelingt Wieland sein Vorhaben, und die Art, wie ein großer deutscher Dichter einen großen römischen Dichter überträgt, ist einfach nur wunderbar. Die Selbstverständlichkeit, mit der die immer spürbar gestaltete Sprache in den Versen fließt, beeindruckt mich sehr:

 

Verzeihe selbst, wenn du Verzeihung brauchst,
und soll ich deinen Höcker übersehen,
so halte meine Warzen mir zu gut.

 

Aus der dritten Satire. Wenn man das selbst versucht, stellt man erst fest, wie schwer es ist … Vielleicht liegt es auch an den Ergebnissen, die man als Nicht-Horaz und Nicht-Wieland  vorlegt, wenn Habsüchtige, Ehrgeizige, Weiberhelden, Kaufleute so sich verhalten, wie es Horaz in der vierten Satire sagt?

 

omnes hi metuunt versus, odere poetam.

Natürlich fürchten diese wackren Leute
vor Versen sich, und hassen den Poeten.

Ohne Titel

v v v — — —

v — — —
v — — —
v — — —

v v v — — —

v — — / v v — — / v v — / v v — — / v — —
v — — / v v — / v v — — / v v — — / v — v

 

Was der Poet wahrnahm

Ins Bierfass sprang
Der Stier. Nass klang
Sein Tierbass lang…

Wie er beredt klarkam

Ein Lied steigt aus dem Feld auf; wer es singt, wer ihm zuhört, ist nicht klar,
Doch auf klingt es und schwört, dass es wahr spricht, und die Welt sieht – und schweigt dann.

Bücher zum Vers (16)

Frieder von Ammon: Ungastliche Gaben. Die „Xenien“ Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart.

Die „Xenien“ stehen für den größten literarischen Skandal, den es in Deutschland je gegeben hat; schon alleine darum lohnt ein Blick auf sie. Aber vor allem sind sie eine Sammlung von Einzel-Distichen und darum eine ausgezeichnete Sammlung, um sich Gedanken über das Distichon zu machen – und darüber, was man selbst damit anstellen möchte.

Von Ammon  geht dann auch in einem eigenen, nicht allzulangen Kapitel auf die Form „Distichon“ ein, ehe er dann auf den Aufbau der Distichon-Sammlung „Xenien“ zu sprechen kommt; und von da aus weiterwandert zu deren literarischer Rezeption, ehe er schließlich bei Johannes Bobrowski landet, an dessen Texten von Ammon „Die Renaissance der Gattung in der DDR-Literatur“ beschreibt.

Das alles liest sich durchaus unterhaltsam und gibt Einblick in viele Dinge, vor allem eben auch in die Umstände, unter denen die Form Distichon satirisch wirken kann – und warum gerade diese Form für eine solche Wirkung geeignet ist. Insofern: Lesenswert! Erschienen ist der Band 2005 bei Niemeyer.

Ich stelle an den Schluss die Xenie Goethes und Schillers, die von Ammon seinem Buch vorangestellt hat:

 

Lebet, ist Leben in euch, und erzählt noch dem kommenden Alter,
Distichen, was wir geehrt, was wir gehasst und geliebt.

Die Bewegungsschule (9)

Die Sinneinheiten, die bisher nicht in den Vers passen, sind von verschiedener Art. Da gibt es solche, die sich in so gut wie keinen deutschen Vers einfügen, wie die „ta TAM TAM ta“; eine „Salatschüssel“ sucht man in einem metrisch geregelten Text meist vergeblich. Bei anderen wundert es, dass sie mit dem Maß nicht vereinbar sind, das wären zum Beispiel die „TAM ta TAM ta“ – kein „Regenbogen“ in unserem Vers (noch nicht).

Noch verwunderlicher: Ein „Liebesgedicht“ – „TAM ta ta TAM“ – kann in unserem Vers vorkommen, mehrere „Liebesgedichte“ – „TAM ta ta TAM ta“ – aber nicht! Das wäre dann eine der Stellen, wo man sich als Schreibender nach anderen Lösungen umsehen muss …

 

Der Poet, wie im Rausch! trug Liebesgedicht
vor um Liebesgedicht, bis die Stimme ihm brach.

 

„Poet“ statt „Dichter“ – auch eine Wirkung des Drucks, den das Versmaß ausübt. Aber auch wenn so „Liebesgedichte“ erschreibbar sind – um ganz allgemein Sinneinheiten der Form „TAM ta ta TAM ta“ den Zugang zum Vers zu ermöglichen, und auch, um die in (8) angesprochenen „ta TAM ta“ dabei zu haben, gibt der Vers dem Schreibenden die Möglichkeit, die Zäsur zu verschieben – am leichtesten und häufigsten (und hier in der Bewegungsschule: ausschließlich) um eine Silbe nach hinten, also so:

ta ta TAM ta ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM

Das sollte aber die Ausnahme bleiben – die bei weitem häufigere, die Haupt-Zäsur liegt, wie bisher gezeigt, genau in der Mitte des Verses:

ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

Das ist das alte Spiel solcher geregelten Verse: Zum einen muss durch die Wiederholung der Bestandteile ein Gefühl der Zusammengehörigkeit geschaffen werden, zum anderen durch Abwandlung der Eindruck von Gleichförmigkeit vermieden werden. Dieses Ziel erreicht man, indem immer mal wieder – sagen wir, im Schnitt alle fünf, sechs Verse – ein Vers mit „weiblicher“ (= nach einem „ta“) Zäsur (Abwandlung) gemischt wird unter die weit zahlreicheren Verse mit „männlicher“ (= nach einem TAM) Zäsur (Wiederholung). Wie oft genau?! Da kommt dann das einzelne Ohr zum Tragen, der Geschmack des jeweiligen Schreibenden; aber ich schlage doch vor, sparsam damit zu sein, weil der Text sonst seine bestimmte, klare Linie verliert,

 

und die Verse sich müde bewegen wie hier.

 

ta ta TAM ta / ta TAM ta || ta TAM ta / ta TAM

Da stecken gleich zwei „ta TAM ta“ drin, und wirklich: den Gesellen gegenüber sollte man vorsichtig sein!

 

Das sind Liebesgedichte der leichteren Art,
Voll heiteren Scherzen und neckendem Spiel.

 

ta ta TAM ta ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM
TAM TAM ta ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM

Zwei Verse, die zeigen, dass sich durch diese Verschiebung der Zäsur einige neue Sinneinheiten gewinnen lassen (auch jenseits der „Liebesgedichte“), dass sich der Vers immer noch schnell und schön gegliedert bewegt – und dass die Bewegung doch leicht, aber spürbar anders ist als bei der „TAM-Zäsur“.

All das braucht jetzt einige Übungsverse, denke ich?! Vielleicht lohnt es sich dabei ja, auch nach längeren Worten zu suchen, wie eben „Liebesgedichte“, und die neue Zäsur und Verseinteilung mit ihrer Hilfe zu erproben; denn im „richtigen Gedicht“, jenseits der Übung, kommen solche Worte oft zu kurz, finde ich.

Das Königreich von Sede (31)

Zum Graben geht,
Am Graben steht
Des Königs alter Seher,
Froschumhüpft. Das tat ihm weh,
Einst; nun tut es weher.

Im Gestern schwebt,
Was einst gelebt,
Von keinem zu erreichen –
Alles musste dem, was ist,
Meint: dem Heute weichen …

Und Pulverfass,
Die Wangen nass,
Sieht, wild umhüpft, am Graben:
Hundert Frösche, glücklich, dass
Sie ein Leben haben.

Erzählverse: Der Hexameter (22)

Ludwig Kosegartens Nachdichtung: Orpheus‘ Hymne an den Mond

Ich habe mich bisher nicht so richtig mit der „hexametrischen Hymne“ beschäftigt, aber seit ich rein zufällig bei Kosegarten darüber gestolpert bin, scheint mir, ich sollte das doch mal tun. Ein sicheres Anzeichen dafür ist, dass ich eine der bei Kosegarten gefundenen Hymnen auswendig gelernt habe beim Radfahren … Ich glaube, es ist eine recht freie Nachdichtung einer antiken Hymne – genauer nachgeschaut habe ich noch nicht, meine mich aber erinnern zu können, dass der Text doch anders lautet. Bei Kosegarten liest sich diese „Hymne an den Mond“ jedenfalls so:

 

Höre mich, Königin, Göttin, du freundliche Schöne des Himmels,
Luftdurchwandlerin, Dunkelerleuchterin, Sterneregentin,
Nimmer ermüdende Pilgerin, nimmer verlöschende Fackel,
Ewig neugeboren, und ewig alternd und sterbend,
Männliche, Fräuliche, Glänzende, Herrliche, Schimmergelockte,
Strahlenverspenderin, Rossetummlerin, Mutter der Zeiten,
Alles belauschende Wächterin, Tänzerin himmlischer Tänze,
Die du wandelst so gern im stillen traulichen Dunkel,
Die du leuchtest so gern, so gern erquickest und segnest,
Die du führst im Triumph der Sterne jauchzende Reigen,
Lichtumgürtet, umwallt vom weiten silbernen Mantel –
Komm, holdselige, komm in deiner Schöne, du Gute,
Und mit mildem Strahl erfreue den flehenden Waller.

 

Waller heißt wohl, wie früher häufiger, Wanderer?! Keine Frage, was mich da anzieht, ist die Lust an der Aufzählung, erst recht, wenn sie so abwechslungsreich gestaltet ist wie hier: Es ist immer eine Veränderung drin, ein Wechsel auf formaler oder inhaltlicher Ebene, so dass keine Langeweile aufkommt. Das ist keineswegs selbstverständlich, in einer anderen Nachdichtung – „Orpheus Hymne an die Natur“ – verliert Kosegarten jegliches Maß:

 

Starke, Gewaltige, Kühne, Erhabenste, Höchste der Kräfte,
Duftige, Liebliche, Labende, Freundliche, Künstliche, Weise,
Zeugerin, Hegerin, Pflegerin, Erzieherin, Wärterin, Amme,
Heldin, Huldin, Dichterin, Rednerin, Meisterin, Fürstin,

 

Da muss man doch schlucken (Huldin, laut Grimm: Eine anmutreiche Person. Gut für den Wortschatz sind diese Hymnen allemal). Was ich unbedingt nachschauen muss, ist, ob die Hexameter in diesen Hymnen anders gebaut sind als normale Hexameter. Denn es fällt ja schon auf, dass, je aufzählender der Vers wird, zum einen fast immer die metrischen Einheiten mit den Wortgrenzen zusammenfallen, was man sonst tunlichst vermeiden möchte, weil es sonst eintönig klingt; zum anderen sitzt auch die Zäsur, der Verseinschnitt ziemlich oft vor einer betonten Silbe, was ja eine der sieben Hexameter-Todsünden ist. Wobei die Zäsur natürlich ein wenig theoretisch ist, weil ja nicht sie den Vers gliedert, sondern die Aufzählung. Hm. Eben bin ich noch über eine andere Hymne gestolpert (wenn man erst einmal anfängt, darauf zu achten, sind sie überall!), Carl Phillipp Conz‘ „Hymne an das Licht“, die so anfängt:

 

Seliges, göttlich entsprossenes, heiliges, herrliches, Heil dir!
Heil, unerforschte, lebendige, Leben erzeugende Kraft, dir,

 

Und da kann man dann ja durchaus schon Methode vermuten! Andererseits entgleisen Conz seine nichthymnischen Hexameter des öfteren, und auch wenn Kosegarten den Vers halbwegs im Griff hat, ist er vor Ungeschicklichkeiten nie gefeit. Liegt es also daran, dass hier Dichter der dritten Garnitur am Werk sind? Hmja, vielleicht – vielleicht überschreiben aber auch einfach und ganz natürlich die Anfordernisse einer Aufzählung die eines erzählenden Verses. Den andersrum gilt ja auch: Je erzählender der Vers wird, desto enger folgt er wieder den „normalen“ Regeln. Da muss man dann eben von Vers zu Vers schauen … Hier etwa:

Zeugerin, Hegerin, Pflegerin, Erzieherin, Wärterin, Amme,

Da hat Kosegarten drei unbetonte Silben nacheinander – hat er gepennt, nicht aufgepasst? Oder das doch bewusst so gemacht, um die Einförmigkeit wenigstens ein klein wenig aufzulockern? Wer kann es sagen.