Das Königreich von Sede (97)

Frösche sitzen auf den Steinen,
Unbeweglich, und sie weinen
Tränen, große; dann die kleinen;
Und dann keine mehr.
Nennten sie der Tränen Gründe,
Keinen gäb’s, der sie verstünde,
Ist’s doch lange her.

Frösche sitzen, unbeweglich,
Auf den Steinen, wo sie täglich
Weinen, und sie schauen kläglich,
Tränenschwer die Welt:
Die der andern, und vertrauen
Darauf, dass, was Menschen bauen,
Endlich schwankt und fällt.

Erzählformen: Das Distichon (64)

Die Dichter reden bekanntlich nicht über sonderlich viele Dinge; sie tun es nur auf sehr unterschiedliche Weise. Am Neujahrstag habe ich Winterleben von Karl Rudolf Tanner eingestellt; heute geriet mir dieses Doppeldistichon von Wilhelm Gerhard in die Hände:

 

Langsam rollt die Kalesche den Hügel hinauf und hinunter,
Nichts als Wolken und Schnee bietet dem Blicke sich dar.
Dennoch wandelt im Grünen des Geistes feuriges Auge,
Und die erstarrete Hand folgt mit dem Griffel ihm nach.

 

Bei allen Unterschieden doch so ähnlich, dass mich das eine an das andere erinnert hat.

Erzählformen: Das Distichon (63)

Heute habe ich einen Zettel weggeräumt, auf dem ich mir ein Distichon Wilhelm Waiblingers notiert hatte, aus seinem Gedicht „Auf dem Lago Maggiore“:

 

Himmel und Sterne dort oben und Himmel und Sterne hier unten,
Dunkel und Tiefen und Licht lachen wie Engel sich an.

 

Formal ist nichts besonderes an ihm, bis vielleicht auf den Umstand, dass alle Einheiten dreisilbig besetzt sind, was ja nicht ganz so häufig vorkommt; inhaltlich ist es typisch Waiblinger, immer leicht und unbefangen, mehr auf das große Wort als auf den genauen Ausdruck vertrauend. Manchmal leiden seine Distichen-Texte darunter, aber hier passt es, finde ich, und der Text nimmt den Leser gerade durch diese Unbefangenheit für sich ein?!

Jetzt muss ich nur noch herausfinden, warum ich mir dieses Verspaar herausgeschrieben habe. Herrje.

Es regnet

Einer Pfütze wegen bleib‘ ich lange Zeit am Wegrand stehen,
Sehe in ihr wieder Kreise, wieder wachsen und vergehen.

Bücher zum Vers (99)

Paul Böckmann:  Formensprache.

Wieder einmal kein wirkliches „Vers-Buch“ (erschienen 1966 bei Hoffmann & Campe); aber doch bemerkenswert genug. Es enthält zum Beispiel „Hölderlins Naturglaube. Zur Interpretation des Archipelagus-Gedichts“, und dieser Text zu Hölderlins wunderbarem Hexameter-Text beginnt so:

Wie alle große Lyrik lebt auch diejenige Hölderlins zunächst und vor allem aus der Einmaligkeit ihrer sprachlichen Prägung. Es ereignet sich hier das der Lyrik eigene Wunder, dass sich in Gedichten von wenigen Verszeilen die der Sprache eigene Unendlichkeit mit der des Lebens so vermählt, dass die Worte in sich selber schwingen und im Hersagen sich ständig erneuern.

Nur auf das letzte Wort geschaut, „erneuern“: Was macht denn dann nicht-große Lyrik mit den Worten, was Nicht-Lyrik? Nutzen sie die Worte ab? Verbrauchen sie sie?!

Unschöne Vorstellung … Aber wie sagt Hölderlin im „Archipelagus“:

Deiner Inseln ist noch, der blühenden, keine verloren.

Streiche „Inseln“; setze „Worte“.

Erzählverse: Der Blankvers (93)

Ludwig Gotthard Kosegartens „Das Schattenreich“ ist ein eigenartiges Wechselgespräch zwischen einem seiner Bewohner, Elwill, und Telynhard, der diesen befragt. Die Fragen sind dabei in vier trochäischen Dreihebern gestellt, die Antworten werden in Blankversen gegeben! Ein Auszug:

 

Elwill, ist dir helle,
Wo uns Dunkel hüllt?
Ist dir Wahrheit, Elwill,
Was uns Wahrheit däucht?

„Wohl Manches, was dem eingekerkerten,
Durch enge Gitter mühsam spähenden,
Durch weite Fernen ängstlich horchenden,
Verwiesnen Geiste Blitz der Wahrheit däuchte,
Was Denker mit der Schlüsse Kettenringen,
Was Priesterwut mit Bann und Beil und Holzstoß,
Was Märtyrer mit hingebognem Nacken
Erwiesen, oder zu erweisen wähnten,
Ist dennoch Traum.
Wohl Manches, was der selbstzufriedne Grübler
Als Dichtertraum verlacht, der eitle Spötter
Als Priestermärchen höhnt, der kalte Grübler
Gar in der Unding‘ öde Nacht verbannt,
Ist dennoch Wahrheit.
Eins ist mir helle, was mir dunkel war.
Das Andre dämmert mir nur noch. Das Dritte
Ist rabenschwarze Mitternacht noch immer.
Viel sind der langen Ewigkeit Äonen.
Viel Zeit ist hier zu lernen. Vieles ist
Dem ersten Seraph noch zu lernen übrig.“

 

Man hört: Diese Antworten klingen nach einem Rätselwort, an manchen Stellen stärker, an anderen schwächer. Was aber immer auffällt, ist der Gegensatz zwischen den gewählten Versarten; allemal eine wirkungsreiche Möglichkeit, eine solche Wechselrede zu gestalten!

Wider das Reimen

Wehe, wenn sie losgelassen!
Wehe, wenn der Reime Massen
In verträumte Zeilenherden
Dichterseits getrieben werden,
Wahllos sich auf Verse werfen:
Freunde! Diese Töne nerven.

Erzählformen: Das Distichon (62)

Das Distichon ist eine Form, die an rhythmischen Möglichkeiten überreich ist. Allerdings treten nicht alle diese Möglichkeiten gleich häufig in Erscheinung! Eine der seltensten ist sicher der „Antispast“, also die Silbenfolge ◡ — — ◡, bei der zwei „schwere“ Silben von zwei „leichten“ Silben eingerahmt werden. Dafür müssen in der Mitte des Pentameters der Vers- und der Satzeinschnitt auseinandertreten, und der Satz muss dabei zwei Einschnitte aufweisen, jeweils zwei Silben vor- und zwei Silben nach dem Verseinschnitt. Nur dann wird eine antispastische Sinneinheit hörbar!

Ein Beispiel findet sich bei Gustav Schwab:

 

Prognostikon

Wer, zu fallen bestimmt, mit Ehren zu fallen versäumt hat,
Fällt mit Schanden, ein Spott Feinden, und Freunden ein Graun.

 

„Ein Spott Feinden“, ◡ — — ◡!

Wer darauf achtet, findet solche Antispaste nicht oft, aber doch gelegentlich. Ein anderes Beispiel, diesmal von Wilhelm Ernst Weber:

 

Faust

Königlich trägt auf der Stirn er das prometheische Siegel
Sinnender Tiefe, ein Gott stehend, und fallend noch Mensch.

 

„Ein Gott stehend“; ziemlich ähnlich dem Pentameter Schwabs?! Noch ein anderer Fall sind die Pentameter-Einschnitte, die durch ein „über ihnen“ liegendes Wort verwirklicht werden. Das kann gleichfalls antispastisch klingen wie in diesem Distichon eines unbekannten Verfassers:

 

Mehr als einer

Immer sagt ihr, der eine, der Feilschuft, saget doch lieber
Von der Familie der Feil – Schufte, sie ist ja so groß.

 

„Der Feilschufte“. Der Bindestrich ist so vom Verfasser gewollt! (Und nein, was genau ein „Feilschuft“ ist, weiß ich auch nicht …)

Der Antispast hat jedenfalls eine sehr eigene Bewegung. Wer ein wenig mehr wissen möchte, kann im „Hinterzimmer“ des Verserzählers vorbeischauen, wo einige Stimmen zu diesem Versfuß versammelt sind: Der Antispast.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (60)

Johann Georg Fischer hat einige lange Texte im trochäischen Vierheber geschrieben, die Freunde und Gefährten zum Inhalt hatten, und damit auch immer: Die Erinnerung an die gute, alte Zeit. So heißt es zum Beispiel in „Tuch und Leder“:

 

Alte Zeit und Augenweide,
Stolzer Fuhrknecht mit den sechs und
Acht und zwölf und zwanzig Rossen,
Zwanzig Knöpfen an dem Brusttuch,
Gold’ne Zeit, wer bringt dich wieder,
Deine Fuhren, deine Einkehr
Bei den schweren Metzelsuppen?
Nur des Schwarzwalds Tannenflößer
Haben deiner Herrlichkeit noch
Einen treuen Rest gerettet.
Aber auf dem Vorsprung ihrer
Wagen steh’n der Eisenbahnen
Uniforme Kondukteure,
Und dem Kellner aus der Hand noch
Reißt der eine Wurst und Bierglas,
Eh sie zischt, die Dampfmaschine,
Doch der and’re pfeift – und vorwärts
Schlenkerts vierundsechzig Wagen,
Dann ein Rauch noch, und dann nichts mehr!

 

Früher war, wie alle wissen, nicht alles besser. Aber darauf kommt es hier auch nicht an, sondern auf die Versbewusstheit des Textes, die trotz der manchmal harten Zeilensprünge immer für Schwung sorgt, für Bewegtheit und Spannung; in einer Art, in der es ein Prosatext nicht vermöchte. Den Beweis dafür liefert, wie immer, der eigene Vortrag; das laute Lesen.