Erzählformen: Die Brunnenstrophe (21)

Je weiter man sich der Gegenwart nähert, je stärker hebt sich die Brunnenstrophe gegen ihre Umgebung ab. In Ingeborg Bachmanns „Sämtlichen Gedichten“ (Piper, 6. Auflage 2009) zum Beispiel findet sich auf Seite 144 „Bleib“. Die erste der drei Strophen:

 

Die Fahrten gehn zu Ende,
der Fahrtenwind bleibt aus.
Es fällt dir in die Hände
ein leichtes Kartenhaus.

 

Und was vor 150 Jahren eine gänzlich unauffällige Strophe gewesen wäre, sticht hier unter den davor und danach stehenden Gedichten (darunter durchaus einige Reimgedichte!) doch sehr heraus. Und damit müsste sich jeder abfinden, der diese Form nutzt: die Erinnerung an Vergangenes, und damit ein Eindruck von Unpassendheit im Jetzt. Den kann man nutzen für sich, oder gegen ihn ankämpfen; aber da ist er.

Erzählformen: Die Brunnenstrophe (20)

Zum Guten oder Schlechten – die Brunnenstrophe klingt immer etwas romantisch und volkstümlich, oder zumindest erwartet man das von ihr. Werden andere Inhalte dargestellt, modernere: Klingt es oft etwas fremd. Das kann man schon an Ferdinand von Saars inzwischen gleichfalls nicht mehr ganz taufrischem „Arbeitergruß“ feststellen! Die ersten vier Strophen:

 

Vom nahen Eisenwerke,
Berußt, mit schwerem Gang,
Kommt mir ein Mann entgegen,
Den Wiesenpfad entlang.

Mit trotzig finstrer Miene,
Wie mit sich selbst im Streit,
Greift er an seine Mütze –
Gewohnheit alter Zeit.

Es blickt dabei sein Auge
Mir musternd auf den Rock,
Und dann beim Weiterschreiten
Schwingt er den Knotenstock.

Ich ahne, was im Herzen
Und was im Hirn ihm brennt:
„Das ist auch einer,“ denkt er,
„Der nicht die Arbeit kennt.“

 

Ein Arbeiter aus einem Eisenwerk – nichts, was man bei Brentano oder Eichendorff zu erwarten hätte! Aber die Strophe bewältigt selbstredend auch das.

Erzählformen: Die alkäische Strophe (21)

Die deutschen Nachbildungen antiker Strophen reimen sich genausowenig, wie es ihre Vorbilder getan haben; und das aus gutem Grund. Rudolf von Gottschall hat trotzdem viele derartige Versuche unternommen, zum Beispiel in dieser selbstbezüglichen Strophe:

 

O zage vor dem kühneren Schwunge nicht,
Der alten Brauches sklavische Fessel bricht,
Der um die Regel, die uns bindet,
Zartere Blüten des Reimes windet.

 

Und zugegeben, das klingt gar nicht einmal so schlecht.  Trotzdem ist es keine alkäische Strophe mehr, denn das, was sie ausmacht – die beiden kleinen Bögen in V1 und dann V2, an die sich der große, durch V3 und V4 schwingende Bogen anschließt – wird hier durch die Reime zerstört, die, wie üblich, die Aufmerksamkeit weg von der Bewegung auf den Klang lenken, aber eben auch die Bewegung an sich zerstören. Ich denke, für die alkäische Strophe gilt, was für Hexameter, Distichon und all die anderen „alten“ Maße auch gilt: Ohne Reim ist sie besser dran.

Klopstock und Besson

Für jemanden, der überhaupt nicht ins Kino geht (seit 30 Jahren nicht), lese ich erstaunlich viele Film-Kritiken … Im Falle von Luc Bessons „Valerian – Die Stadt der tausend Planeten“ lohnt das aber durchaus, denn zum einen gründet dieser Film auf einem Comic, den ich in jungen Jahren sehr gern gelesen habe; und zum anderen zählt er zu den Dingen, die entweder Begeisterung oder Abscheu hervorrufen.

Diejenigen Kritiker, die von einem Film Dinge wie eine Geschichte oder Charakterentwicklungen oder überhaupt erst einmal Charaktere erwarten, werden hier eher enttäuscht; wer sich dagegen an der schieren Menge von Einfällen besaufen möchte, bekommt nie zuvor Gesehenes im Übermaß geboten.

Bilge Ebiri bringt das bei the village voice so auf den Punkt:

Valerian and the City of a Thousand Planets is a movie made by someone who knows how to seduce our eyes and ears, and knows well enough to leave our brains alone.“

Und das hat mich an Lessing erinnert, der über eine von Klopstocks längeren Hymnen, „Die Allgegenwart Gottes“, so urteilte:

„Wenn ich Ihnen sagen sollte, was ich denn nun von der Allgegenwart Gottes mehr gelernt, als ich vorher nicht gewusst; welche von meinen dahin gehörigen Begriffen der Dichter mir mehr aufgeklärt; in welcher Überzeugung er mich mehr bestärket: so weiß ich freilich nichts darau zu antworten. Eigentlich ist das auch des Dichters Werk nicht. Genug, dass mich eine schöne, prächtige Tirade uber die andere angenehm unterhalten hat; genug, dass ich mir, während dem Lesen, seine Begeisterung mit ihm zu teilen geschienen habe: muss uns denn alles etwas zu denken geben?“

Eine andere Zeit, eine andere Sprache, ein anderes Medium; aber einige Dinge sind halt, was und wie sie sind …

Hebbels Tagebücher

Heute habe ich einmal wieder mit genuss in Friedrich Hebbels Tagebüchern gelesen, genauer: in dem von 1848. Da stehen dann solche Einträge drin wie der vom 13. Januar:

Ein großer Leichenzug zieht eben an unserem Fenster vorbei. Der Tote muss zum Wenigsten Feldmarschall gewesen sein, denn ihm folgen ganze Regimenter mit Fahnen, Trommeln und Kanonen. Zum ersten Mal sehe ich ein Pferd, dem die Schleppe nachgetragen wird; ein schwarzes in schwarzem Flor. Meine Frau steht neben mir am Fenster und säugt ihr Kind, das mächtig trinkt.

„Ihr“ Kind meint allerdings schon „unser“ Kind (eine Tochter). Bei dieser Schilderung kommen Erinnerungen hoch an ein beim Verserzähler schon vorgestelltes, schönes Sonett Hebbels, siehe Sonett (2)!

Andere Einträge sind Gedanken zu zukünftigen Stücken, oft in der wörtlichen Rede. Am 20. Februar:

„Ja, würden die Jahre dessen, den ich tötete, meinen zugelegt, dann -„

Und manchmal sind es auch ganz allgemeine Gedanken, die aber immer eine bildhafte Form finden. Form! Am 7. Januar:

Was ist doch ein Mensch, dem die Form fehlt! Ein Eimer voll Wasser ohne den Eimer!

Wer gerne Tagebücher liest – das, und die anderen Hebbels lohnen sich auf jeden Fall!

Ein Konjugationsgedicht

Heute bin ich mal wieder diese vier Verse von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau gelesen:

 

Ich liebe, du liebest, er liebet das Lieben,
Was liebet, wird alles vom Lieben getrieben,
Wir lieben, ihr liebet, sie lieben zusammen,
Drum kommet, ihr Nymphen,und kühlet die Flammen.

 

Und nun ist das inhaltlich durch die Art der Darsellung eine Anhäufung von sehr Ähnlichem, und in der Versbewegung ein unentwegtes „ta TAM ta“- tatsächlich ist die einzige hörbare rhythmische Figur der Amphybrach! Trotzdem sind diese vier Zeilen gute Dichtung, sie haben Schwung und lassen aufhorchen. Dazu muss man dann wohl wirklich Dichter sein … (Was bei Hoffmannswaldau aber ohnehin außer Frage steht!)

Erzählverse: Der Blankvers (108)

Wie viele Verse braucht es, um den ganz eigenen „Blank-Vers-Ton“ des jeweiligen Verfassers zu verinnerlichen, oder auch nur den eines einzigen seiner Gedichte? Manchmal viele, manchmal reichen aber auch schon ganz wenige:

 

Aus rot und blau und gelb gezirkten beeten
Marschwiesen brückchen hügelchen kanälchen
Aus dem gezirp verspäteten behagens
Mit mattem hausglück stand ein Junger auf
Dem wärmte glühende Welle noch das herz
Dem war das steilste leicht und suchen war
Sein tag und seine nächte waren licht
Vom beten um die gnade um erfüllung.

 

Das sind die ersten Verse von Karl Wolfkehls „Nur wir“, im ersten Band seinergesammelten Werken (Claassen 1960) auf Seite 81 zu finden. Insgesamt weniger aus ein Zehntel des gesamten Textes, aber seinen Ton hat er hier schon gefunden?!

 

Bücher zum Vers (110)

Dirk Dethlefsen: Zu Metrum und Rhythmus des Blankverses in den Dramen Heinrich von Kleists.

Dieser 1970 bei Fink erschienene, mit 140 Seiten nicht allzu umfangreiche Band hat zwar einen sperrigen und nicht sehr einladenden Titel, kommt aber im Inneren klar und verständlich daher in Kapiteln, die dazu recht gründlich in die Tiefe gehen (und das Erkannte auch noch anhand vieler Tabellen darstellen und absichern). Alles sehr lesbar! Ich füge hier aber trotzdem nur ein auf Seite 14 zu findendes Zitat Kleists an:

Ich bemühe mich aus meinen besten Kräften, dem Ausdruck Klarheit, dem Versbau Bedeutung, dem Klang der Worte Anmut und Leben zu geben; aber bloß, damit diese Dinge gar nicht, vielmehr einzig und allein der Gedanke, den sie einschließen, erscheine. Denn das ist die Eigenschaft aller echten Form, dass der Geist augenblicklich und unmittelbar daraus hervortritt, während die mangelhafte ihn, wie ein schlechter Spiegel, gebunden hält und uns an nichts erinnert als an sich selbst.

Schon an sich bedenkenswerte Worte; und außerdem eine kleine Erinnerung daran, dass Kleist auch als Prosaist eine Größe war.