Archiv für den Monat April 2018
Erzählformen: Die Stanze (4)
Hinter einer Form, die in allgemeinen Gebrauch kommt, steht meistens ein großes Werk, dass diese Form beispielhaft verwendet. Der Hexameter zum Beispiel wäre in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht schlagartig beliebt geworden, hätte Klopstock nicht mit seinem „Messias“ ein diesen Vers verwendendes Werk vorgelegt, das seine Zeitgenossen tief beeindruckt und begeistert hat!
In Bezug auf die Stanze spielt (auch) Ludovico Ariostos „Der rasende Roland“ diese Rolle. Fünf Stanzen daraus in der klassischen Übersetzung von Johann Diederich Gries – die Beschreibung der Zauberin Alcina:
Was kunsterfahr’ne Maler je erfunden,
Reicht an die Schönheit ihrer Bildung nicht.
Die blonden Haare, lang und aufgewunden,
Besiegen selbst des Goldes glänzend Licht.
Mit Rosen haben Lilien sich verbunden
Und überstreun ihr zartes Angesicht.
Die heitre Stirn, in ihres Maßes Reine,
Scheint wie geformt aus glattem Elfenbeine.
Zwei schwarze Bogen, fein und zart, umhegen
Ein schwarzes Augen- nein, ein Sonnenpaar,
Im Blicken zärtlich, sparsam im Bewegen.
Da nimmt man Amor, scherzend, fliegend wahr;
Da sendet er herab der Pfeile Regen
Und raubt die Herzen, jedem offenbar.
Die Nas‘, absteigend mitten im Gesichte,
Macht auch des Neides Tadelsucht zunichte.
Dann folgt der Mund, von Grübchen hold umfangen,
Und mit natürlichem Karmin bedeckt,
In dem zwei Schnür‘ erlesner Perlen prangen,
Bald von der Lipp enthüllt und bald versteckt.
Da kommt die holde Red‘ hervorgegangen,
Die auch im rausten Herzen Milde weckt;
Da sieht man oft das süße Lächeln werden,
Das, wie es will, den Himmel bringt zur Erden.
Der Hals ist Schnee, und Milch die Brust; vollkommen
Gerundet jener, diese voll und breit.
Ein Äpfelpaar, dem Elfenbein entnommen,
Wallt auf und ab, wie bei der Lüfte Streit
Am Uferrand die Wellen gehn und kommen.
Vom andern gäb‘ auch Argus nicht Bescheid;
Doch schließt man wohl, es müsse das Versteckte
Dem ähnlich sein, was sich dem Aug‘ entdeckte.
Den Armen ist das rechte Maß gespendet,
Und oftmals wird die zarte Hand geschaut,
Die, länglich, schmal, durch ihre Weiße blendet;
Nicht Ader spannt noch Knöchel ihr die Haut.
Die ganze herrliche Gestalt vollendet
Der kurze Fuß, rundlich und wohlgebaut.
Den Engelreiz, im Himmel selbst entsprossen,
Hielt auch der dichtste Schleier nicht verschlossen.
Vierzig Verse, Alcina wörtlich vom Kopf bis zum Fuß zu beschreiben, und das in nicht sehr eigenständigen Bildern. Wobei die Schönheit, wohlgemerkt, die „Böse“ ist, die sich alle paar Monate einen neuen Mann als Liebhaber nimmt und den jeweiligen Vorgänger in Steine oder Bäume oder Quellen verwandelt …
„Erwischt“ hat es Rüdiger, der eigentlich vergeben ist. Aber:
Und glatt aus seinem Herzen ist verschwunden
Die schöne Jungfrau, der er’s einst verlieh.
Alcina wusch von alten Liebeswunden
Es völlig rein durch mächtige Magie;
Auch wird nichts andres mehr in ihm gefunden,
Als sie allein und Zärtlichkeit für sie.
Und dieser Bann entschuldigt ihn notwendig,
Wenn er sich leicht bewies und unbeständig.
Jaja. Aber die Frage bleibt – ist das wirksam? Ich denke, ja; und das hat viel mit dem Umstand zu tun, dass hier in Versen erzählt wird, und auch damit, dass hier die Stanze verwendet wird.
Der „rasende Roland“ hatte übrigens 2016 fünfhundertsten Geburstag, und aus diesem Anlass rückte er wieder ein wenig in den Blick; die NZZ hatte zum Beispiel einen Artikel von Christine Wolter, Frauen, Ritter, Liebeswahn. Kann man lesen!
Erzählformen: Die Stanze (3)
Die im vorigen Beitrag angesprochenen Schwierigkeiten, oder besser: Besonderheiten, die sich bei dem Versuch ergeben, aus einer italienischen Strophenform eine deutsche Strophenform zu machen, hat die deutschen Dichter lange umgetrieben; Christoph Martin Wieland hat dabei seine eigenen Lösungen gefunden. In der Vorrede zu seinem Versepos „Idris und Zenide“ schreibt er:
Das folgende Gedicht ist der erste Versuch, den der Verfasser in einer Art von Stanzen, die den Ottave rime der Italiener ähnlich sind, gewagt hat.
Der Unterschied besteht darin, dass in den Stanzen, worin Bojardo, Ariost, die beiden Tassos, Marino und so viele andere gedichtet haben, alle Zeilen gleich viel Silbenfüße zählen, dass alle Reime weiblich sind, und dass die beiden Reime, an welche die ersten sechs Zeilen gebunden sind, immer auf einerlei Art alternieren, so dass immer die dritte und fünfte Zeile auf die erste, die vierte und sechste aber auf die zweite reimen: da hingegen in den Stanzen des Idris 1) Jamben von acht und neun, zehn und elf, zwölf und dreizehn Silben nach Gutbefinden gebraucht werden; 2) die zwei Reime der sechs ersten Zeilen, ebenfalls nach Willkür, bald wechselweise verschränkt, bald auf jede andre mögliche Art zusammengeordnet sind, und endlich 3) männliche und weibliche Reime abwechselnd und nach Belieben die erste oder letzte Stelle der Stanze einnehmen können.
Diese Freiheit, welche die Natur unsrer etwas ungeschmeidigen Sprache bei einem ersten Versuche wo nicht notwendig zu machen, doch wenigstens zu entschuldigen schien, kann in den Händen eines Dichters, der mit einem Ohr für Wohlklang und Numerus begabt ist, zu einer reichen Quelle musikalischer Schönheiten werden, wodurch diese freiere Art von Stanzen einen wahren Vorzug vor den strengern Ottave rime erhält. Die Monotonie der letztern, die in einem großen Gedichte endlich sehr ermüden müsste, wird dadurch vermieden, und ein weit schönerer Periodenbau, mit einer sehr mannigfaltigen, oft nachahmenden, immer dem Ohre gefälligen Eurythmie und Singbarkeit (wenn ich so sagen darf) in diese Versart gebracht; Vorteile, wovon ganz gewiss kein geringer Teil des Vergnügens abhängt, welches auch solche Leser, die der Prosodie und Versifikation ganz unkundig sind, an Idris und Oberon gefunden haben.
„Oberon“ ist ein anderes Versepos Wielands. Die unterschiedliche Verslänge lässt sich in folgender Stanze, die zufällig die gewöhnliche Reimstellung und die gewöhnliche Verteilung der Versschlüsse hat, gut einschätzen – „ein junger Ritter“ ist im Begriff, ein Bad zu nehmen:
Er schnallt den Harnisch ab, legt Helm und Lanze nieder,
Und überlässt der lauen Flut
Den frischen Reiz der jugendlichen Glieder.
Ihr unbefleckter Schnee, getuscht mit Rosenblut,
Scheint aus den Spiegelwellen wieder,
So wie der Sonne Bild von glattem Marmor tut,
Ihm hätte kaum (die Wahrheit zu gestehen)
Die alte Vesta selbst kaltblütig zugesehen.
Und doch: Die von Wieland genannten Vorzüge sind deutlich erkenn- und vernehmbar!
Erzählformen: Die Stanze (2)
Wenn August von Platen Recht hat mit seiner im letzten Eintrag getroffenen Unterscheidung „Italienische Stanze = episch, deutsche Stanze = lyrisch“ – worin liegen dann die Unterschiede?
Einmal im benutzten Vers. Die italienische Stanze verwendet den Endecasillabo, einen sich rhythmisch zwar zum Iambus hinwendenden, aber eigentlich recht freien und beweglichen Vers. Die deutsche Stanze verwendet an seiner Stelle den fünfhebigen Iambus, also einen Vers mit vergleichsweise wenigen rhythmischen Möglichkeiten. Das fällt bei einem kurzen, zum Beispiel vier Stanzen langen lyrischen Gedicht nicht weiter auf; reihen sich aber im Rahmen einer längeren Erzählung hundert und mehr Stanzen aneinander, entsteht schnell ein unschöner Eindruck von Eintönigkeit.
Ein zweiter Unterschied sind die Reime. Davon hat das Italienische einfach mehr, und vor allem: Im Deutschen haben fast alle weiblich-unbetonten Reime ein „schwaches e“ als Vokal der Schluss-Silbe, und auch das trägt zur Eintönigkeit stark bei. Dem zu entgehen, verwendet die “ Hauptform der deutschen Stanze“ zumindest in drei der acht Verse männlich-betonte Vers-Schlüsse. Der Mangel an Reimen führt dagegen zu einer bestimmten Wirkung, wie Johann Ranftl bemerkt:
Die dreimalige Wiederholung gleichgeordneter Reime ist für den deutschen Dichter, dem lange nicht die unerschöpfliche Reimfülle der italiensichen und spanischen Sprache zuströmt, eine schwierige Aufgabe. Eine reiche Bilderfülle sowie synonyme Erweiterungen müssen oft das Maß bis zum Rande füllen helfen. Diese Notwendigkeit und die langen Verse selbst in ihrer gleichmäßigen Wiederkehr geben der Strophe eine pompöse Pracht und feierliche Würde.
Und da wundert es dann nicht, dass die deutsche Stanze zwar auch für erzählende Dichtungen gebraucht wird, aber eben vor allem für Gedichte, in denen diese feierliche Pracht am Platz ist: repräsentierende Gedichte, Huldigungen, Widmungen, Glückwünsche, Totengedenken, Zueeignungen … Ein Beispiel ist der erste der drei „Stanzen an die Leser“ von Friedrich Schiller:
Die Muse schweigt, mit jungfräulichen Wangen,
Erröten im verschämten Angesicht,
Tritt sie vor dich, ihr Urteil zu empfangen,
Sie achtet es, doch fürchtet sie es nicht.
Des Guten Beifall wünscht sie zu erlangen,
Den Wahrheit rührt, den Flimmer nicht besticht.
Nur wem ein Herz, empfänglich für das Schöne,
Im Busen schlägt, ist wert, dass er sie kröne.
Wobei man, wollte man boshaft sein, anmerken könnte, dass Schiller nicht der „pompösen Pracht und feierlichen Würde“ der Stanze bedurfte, um auf den abgehobeneren Pfaden der Dichtung zu wandeln … Die „Stanzen an die Leser“, so schrieb er Körner, sollten jedenfalls, am Ende eines Almanachs stehend, „die Leser auf eine freundliche Art verabschieden“. Nun denn.
Erzählformen: Das Distichon (118)
Als „Epigramm-Form“ wird das Distichon auch oft genutzt, um über Dichtungsarten und -formen zu reden. So findet sich dann zum Beispiel bei August von Platen ein Doppeldistichon über die Stanze, auch genannt „Oktave“:
Rhythmische Metamorphose
Episch erscheint in italischer Sprache der Ton der Oktave,
Doch in der deutschen, o Freund, atmet sie lyrischen Ton.
Glaubst du es nicht, so versuchs! der italische wogende Rhythmus
Wird jenseits des Gebirgs klappernde Monotonie.
Da hat er durchaus recht, der Herr Platen; warum das so ist, erklärt aber besser ein „Stanzen-Eintrag“ …
Go: Die alten Meister (80)
Der alte Meister machte,
Was unabdingbar war
Für seinen Sieg: er dachte!
Erzählformen: Die Stanze (1)
Die unrsprünglich italienische Stanze ist im Deutschen verschiedenartig nachgebildet worden; als „Hauptform der deutschen Stanze“ gelten acht iambische Fünfheber mit dem Reimschema abababcc, wobei der zweite, vierte und sechste Vers männlich-betont, die anderen fünf Verse weiblich-unbetont schließen. Das ist eine Strophe von einigem Raum, und wird in ihr erzählt, breitet sich das Erzählte gerne in vielen Einzelheiten vor dem Leser aus. Als Beispiel eine sich im Beschreiben verlierende Stanze aus dem ersten Gesang von Ernst Schulzes „Die bezauberte Rose“:
Dann nahte sich aus sanftgeteilten Wogen
Ein glattes Schiff dem blumenreichen Strand.
Wie lustig auch die seidnen Wimpel flogen,
Wie leicht die Luft das Segel auch gespannt,
Doch ward es sanft von Schwänen fortgezogen,
Um deren Hals ein goldner Zaum sich wand;
Aus Ebenholz erglänzten Mast und Stangen,
Von Elfenbein schien Bord und Kiel zu prangen.
Und nicht, dass es damit getan wäre; die Beschreibung des Schiffes nimmt noch zwei weitere Strophen in Anspruch, bevor – nichts weiter geschieht, sondern weiter beschrieben wird, diesmal die auf dem Schiff sich befindende Fee Ianthe:
Ein schmaler Reif von hellen Diamanten
Umgab ihr Haupt mit zauberischem Licht,
Und leicht umfloss mit reichgestickten Kanten
Ein zarter Flor ihr blühndes Angesicht;
Allein den Strahl, den ihre Blicke sandten,
Verbürge selbst der Isis Schleier nicht;
Der eine Arm lag auf des Thrones Lehne,
Der andre hielt am goldnen Band die Schwäne.
Auch das braucht mehr als eine Stanze … Darauf muss man sich als Leser einlassen. Tut man es, merkt man allerdings schnell, dass das Fortschreiten in den vier Verspaaren – dem dreimaligen „ab“ und dem schließenden, oft etwas abgehobenen „cc“ – sich schnell einprägt und die Wahrnehmung viel stärker bestimmt als das eine oder andere eigentlich entbehrliche Adjektiv oder eine unnötig umfangreiche Aufzählung.
Bild & Wort (271)
Erzählformen: Das Distichon (117)
Die reine Wiedergabe von Informationen macht sich in Versen wie Hexameter und Pentameter nicht gut, weil der weite Versraum sich am liebsten mit sinnlicher Wirklichkeit und Handlung füllt. Aber die Dichter wussten und wissen da Abhilfe; Ernst Moritz Arndt zum Beispiel beginnt „Die Lerche“ so:
Als man das achte Jahr zu Achtzehnhundert nach Christi
Unsers Herrn Geburt zählte, zur Zeit, wo der Klang
Geht der Sicheln ins Feld, da lag ich einsamen Schlummers
Fern in dem Lande, wo Jo* klinget zugleich mit dem Ja.
* Das Land, wo Jo gleich Ja klingt, ist Schweden.
Also auch noch ein Fußnotengedicht! (Wobei die Fußnote im „richtigen“ Text, wie es sich gehört, am Ende der Seite steht …) „Schweden, Sommer 1808; ich schlief“ wäre die Kurzfassung des Inhalts, der hier zwei Distichen beansprucht, die darüber hinaus einiges an seltenerem Sprachgebrauch aufbieten – die beiden Genitive „der Sicheln“ und „einsamen Schlummers“ etwa, abgetrennt der eine, qualitativ verwendet der andere.
Erzählformen: Die alkäische Strophe (27)
Der Bau der alkäischen Strophe ist in unserer Sprache so leicht, dass er sich gleichsam von selbst macht und daher leider nur von allzuvielen Stümpern missbraucht wird.
Schreibt der gestrenge Johannes Minckwitz und hat Recht damit, wie ich am eigenen Beispiel zeigen kann – alkäische Strophen nur zum Spaß habe ich endlos viele gestümpert …
Bis nah ans Fenster kommt er und hebt den Kopf
Mit stolzer Geste. Ahnt der Fasan denn nicht,
Dass dies auf frischgemähtem Rasen
Einen erheiternden Anblick bietet?
Die zum Beispiel.