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Erzählformen: Das Distichon (95)

Segen entatmet die Flur nach des Himmels flammendem Brautkuss,
Schöpferleben erfüllt leise die tauige Welt.

 

Der Moment nach dem Gewitter war und ist ja lyrisch nicht ganz unbeliebt und durchaus geeignet für die etwas größere Geste; aber ich habe den deutlichen Verdacht, dass es Wilhelm Hertz hier ein klein wenig übertrieben hat … Das Distichon entstammt einem längeren Gedicht.

Die metrische Form:

Segen ent- / atmet die / Flur || nach des / Himmels / flammendem / Brautkuss,
Schöpfer- / leben er- / füllt || leise die tauige Welt.

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Bücher zum Vers (111)

Horst Turk: Dramensprache als gesprochene Sprache. Untersuchungen zu Kleists „Penthesilea“.

Wie in (110), steht auch hier Heinrich von Kleists Sprachkunst im Blickpunkt, allerdings geht es weniger um den (Blank-)Vers an sich, sondern mehr um die allgemeinen sprachlichen Besonderheiten.

 

Der junge Tag, wahrhaftig, liebste Freundin,
Wenn ihn die Horen von den Bergen führen,
Demanten perlen unter seinen Tritten;
Er sieht so weich und mild nicht drein, als er.

 

Diese vier wunderbaren Verse dienen Turk als Beispiel eines „rückwirkend beziehenden Einschubs“, und auf Seite 66 merkt er dazu an:

Hier ist der umfassende Zusammenhang, der sich im Innern des Satzes expliziert, verkürzt im Subjekt aufgerufen und mitgedacht. „Der junge Tag“ evoziert ein Vergleichsfeld, das Penthesilea in diesem Zitat auf den Peliden anwenden will. Der Vergleich selbst ist aber offensichtlich umfassender gedacht, als der Satzanfang vermuten lässt, in dem er in gewisser Weise beschlossen liegt. Nur wenn er den Ordnungsanspruch des Subjekts durchbricht und sich im Satzinnern verselbstständigt, kann er ganz aus sich heraustreten und sich vollständig sprachlich realisieren.

Der Band ist schon älter, in zweiter Auflage 1968 bei Bouvier erschienen; aber immer noch lesenswert, denke ich.

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Erzählformen: Die alkäische Strophe (22)

Wenn man sich so durch Youtube treiben lässt, stößt man auf erstaunliche Dinge …

 

Furchtlos bleibt aber, so er es muss, der Mann
Einsam vor Gott, es schützet die Einfalt ihn,
Und keiner Waffen brauchts und keiner
Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft.

 

Das ist die letzte Strophe von Friedrich Hölderlins „Dichterberuf“, und ohne Frage eine vollendete alkäische Strophe. Begegnet ist sie mir eben in Fritz Lang recites Hölderlin, einem Ausschnitt aus dem Film „Le Mépris“. Schöner Vortrag, wirklich; und auch sonst ebenso erheiternde wie beachtenswerte anderthalb Minuten, nicht zuletzt durch das viersprachliche Durch-, Mit- und Gegeneinander!

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Vorausgeschaut

Die Krähe kräht;
Der Herbstwind weht
Ihr Krähen in die Weiten,
Von den Feldern in die Stadt,
Freunden zu: Die streiten.

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Hölderlin (irgendwie)

Bettina Brentano gibt wieder, wie Isaac von Sinclair Friedrich Hölderins Äußerungen wiedergegeben hat:

Die Gesetze des Geistes aber seien metrisch, das fühle sich in der Sprache, sie werfe das Netz über den Geist, in dem gefangen er das Göttliche aussprechen müsse, und solange der Dichter noch den Versakzent suche und nicht von Rhythmus fortgerissen werde, so lange habe seine Poesie noch keine Wahrheit; denn Poesie sei nicht das alberne sinnlose Reimen, an dem kein tiefer Geist Gefallen haben könne, sondern das sei Poesie: Dass eben der Geist nur sich rhythmisch ausdrücken könne, dass nur im Rhythmus seine Sprache liege, während das Poesielose auch geistlos, mithin unrhythmisch sei – und ob es denn der Mühe lohne, mit so sprachgeistarmen Worten Gefühle in Reime zwingen zu wollen, wo nichts mehr übrigbleibe als das mühselig gesuchte Kunststück, zu reimen, das dem Geist die Kehle zuschnüre. Nur der Geist sei Poesie, der das Geheimnis eines ihm eingeborenen Rhythmus in sich trage, und nur mit diesem Rhythmus könne er lebendig und sichtbar werden; denn dieser sei seine Seele, aber die Gedichte seien lauter Schemen, keine Geister mit Seelen.

Nun – abgesehen davon, wer nun welchen Teil dieser Aussagen wie zu verantworten hat, und ob das alles in seiner Gesamtheit überhaupt Sinn macht: Reizvoll zu lesen ist es jedenfalls!

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Erzählverse: Der Hexameter (163)

Josef Magnus Wehners „Herbstelegie“ lässt schon in den Naturschilderungen des Anfangs eine eigene Stimme vernehmen:

 

Öffnest du, bläulicher Herbst, so früh schon die Herbe des Todes?
Tummelnde Wildnis versank, es wächst an die Wolke der Stromleib
Und an den Hügeln verhaucht schon am Mittag die spärliche Goldsprut.
Schicksal, da hüllst du dich auf aus luftverhangnen Gedanken,
Bietest dem Träumenden Zeit und Tod den Schlangen des Wachstums.
Einwärts blindet der Baum, es grast ihm der Wind seine Augen,
Blumen verstrahlen ihr Haupt in die schüchterne Wallung der Wurzel,
Ungeborenen Kindern gleicht Wuchs und Versenkung der Wesen.

 

Schon der Gedanke, eine Elegie nicht wie üblich in Distichen, sondern in reinen Hexametern zu schreiben, ist ja ein Zeichen von Eigenständigkeit! Wie belastbar die ganze Elegie inhaltlich ist, will ich nicht beurteilen; die Verse jedenfalls sind durchgängig sicher gebaut und auch wirkungsvoll, an sich und im Dienste der Aussage. Hier noch einige aus dem Mittelteil:

 

Tote besuchen mich nachts und reden verzauberte Worte,
Wandern und kreisen am Bett, und manche sind friedlich und scheiden,
Manche gebärden sich wild, dem Gepfähle der Erde entbrochen,
Betteln für Odem und Blut mit schwärzlichem Blicke und warten,
Bis ihnen traumhaft rinnt ein fremdes Blut, das ich opfre.
Höret, ich fürchte mich nicht, ihr Toten aus drangvollen Gräbern,
Trag ich doch selber den Tod in Tiefen, die euch noch verhohlen.

 

Hier sind die Versschlüsse weniger gut gestaltet als in den Anfangsversen, aber insgesamt herrscht doch ein Eindruck von Fülle und Kraft vor, der die Verse in ihrer Bewegung durchaus anziehend macht!

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Erzählformen: Das Distichon (94)

„Von Ruge einen Brief erhalten …“, schreibt Friedrich Hebbel in seinen Tagebüchern im Eintrag vom 8. Januar 1848, und über dessen Inhalt: „Er gibt mir … Belehrungen über den Versbau“. Nicht zu Hebbels Freude: „Er erweist sich als anmaßlichen Pedanten, dem es entgeht, dass die metrischen Abweichungen von der strikten Voß-Platenschen Observanz in meinen Distichen nicht bloß in dem Beispiel Schillers und Goethes eine Stütze finden, sondern nur aus der völligen Unmöglichkeit, im Deutschen einen vollkommenen, einen zugleich regelrechten und dabei wohlklingenden Hexameter zu Stande zu bringen, hervorgehen“.

Und wie Hexameter und Distichon schon zur Zerrüttung manchen Dichterverhältnisses beigetragen haben, kommt es auch hier, wie es kommen muss, denn der Eingangsatz liest sich vollständig so:

„Von Ruge einen Brief erhalten, der ein weiteres Verhältnis unmöglich macht.“

Doch immerhin weiß ich jetzt, wie das folgende Distichon Hebbels zustande gekommen ist:

 

Der Führer durchs Leben

Nie verbinde dich Einem, der das als Mittel behandelt,
Was dir Zweck ist, du selbst bist nur ein Mittel für ihn!

 

Gegen Ende des obigen Tagebuch-Eintrags findet sich nämlich dieser Satz: „Lehre: Verbinde dich nie mit einem Menschen, dem das Mittel ist, was dir Zweck ist!“ Ein weiteres nettes Beispiel für die Überführung aus der Prosa in den Vers, wobei hier die Prosafassung wohl den Vorzug verdient – das Distichon wirkt doch ein wenig aufgefüllt?!

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Erzählformen: Siebenzeiler (5)

In den bisher schon vorgeführten Siebenzeilern spielte die Kanzonenform eine wichtige Rolle: Ein Aufgesang, bestehend aus zwei zweizeiligen, gleichen Stollen, und ein dreizeiliger Abgesang. Dieser unterscheidet sich zumindest im Reim, kann aber auch ein leicht anderes Metrum aufweisen! Ein Beispiel für letzteres ist Friedrich Rückerts „Frühlingsruf“:

 

Am Bienenhause liegt der Strahl
Der Sonn‘ und weckt die Bienen;
Zur Arbeit möchten sie in’s Tal,
Allein, was wehrt es ihnen?
Ach, das Tal noch kahl zumal
Liegt im winterlichen Bann,
Ohne Blum‘ und Blüten.

Und auch den Finken regt das Licht,
Das helle, hell zu schlagen;
Warum doch schicket er sich nicht,
Gepaart zu Nest zu tragen?
Weil noch licht, weil dicht noch nicht
Laub und Blatt der Baum gewann,
Um ein Nest zu hüten.

In diesen Lüften webest du,
Und schwebst aus diesen Strahlen;
Was hebest du die Todesruh‘
Nicht auch von diesen Talen?
Frühling tu dazu im Nu,
Dass der Kunstfleiß sammeln kann,
Und die Liebe brüten!

 

Hier nutzt der Aufgesang den vierhebigen Iambus, der Abgesang dagegen den vierhebigen Trochäus – ein deutlicher Unterschied in der Wirkung! Aber auch die Gestaltung der Reime ist auffällig: Die Stollen sind ab, ab gereimt, der erste Vers des Abgesangs nimmt dann noch dreimal (!) den a-Reim auf, wonach der vorletzte und der letzte Vers innerhalb der Strophe reimlos bleiben, allerdings strophenübergreifend mit den Schlussversen der anderen beiden Strophen reimen! Alles sehr eigenartig … Ins Bild passt all der andere „Klangschmuck“, den Rückert einbaut: das „liegt, winterlichen, Bann, Blum, Blüten“, was die beiden Schlussverse der ersten Strophe verklammert und in der zweiten Strophe gleichfalls wieder aufgenommen wird: „Laub, Blatt, Baum, gewann“. Die dritte Strophe will davon dann nichts mehr wissen, streut aber dafür noch einen Dreifachreim ein, „webest, schwebst, hebest“; Und noch verschiedenes anderes, so dass, als es zu dem eigentlich fast albernen „tu dazu im Nu“ kommt, der Leser schon alles hinzunehmen bereit ist und es nicht weiter auffällt …

Wie ernst man das nehmen sollte? Keine Ahnung. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass Rückert, der in Bezug auf die Versgestaltung über unglaubliche Möglichkeiten verfügte, hier seinen Spaß hatte beim Ausreizen dieser Möglichkeiten!

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Wortvergnügt (6)

Joachim Heinrich Campe hat in seinem trotz des umständlichen Titels sehr lesenswerten „Wörterbuchs zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke“ viele Vorschläge für neue Wörter gemacht, von denen manche heute so geläufig sind, dass niemand auf den Gedanken käme, sie könnten „erfunden“ worden sein – „tatsächlich“, „Lehrgang“, „Feingefühl“ … Die meisten seiner Neubildungen haben sich aber nicht durchgesetzt und sind heute nur noch für ein Schmunzeln gut, so zum Beispiel die „Schweißlöcher“, die die „Poren“ nicht haben verdrängen können.

Für das französische „taciturne“ schlägt Campe, in Anlehnung an „redselig“, das entsprechende „schweigselig“ vor; ein schweigseliger Mensch ist ein Mensch, der „viel oder oft schweigt, und im Schweigen Vergnügen findet, oder durch Schweigen beseligt wird“.

Auch dieses Wort hat sich nicht wirklich durchgesetzt. Es ist aber auch nicht ganz unbenutzt geblieben, wie ein schöner Satz von Franz Grillparzer beweist:

„In Stuttgart machte ich die Bekanntschaft Uhlands, des letzten deutschen Dichters, der bei sich zu Hause ebenso liebenswürdig ist als in der Fremde schweigselig und neblicht.“

„Schweigselig und neblicht!“ Was für ein bemerkenswerter Zustand das sein muss …