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Erzählverse: Der Blankvers (109)

Prosa und Blankvers haben viele Berührungspunkte. Goethe hat bekanntlich im Falle seiner „Iphigenie“ die erste, in Prosa geschriebene Fassung später in Blankverse umgeschrieben, und zu diesen Sätzen daraus …

 

Sie zwangen mich vor den Altar, wo die Göttin, barmherzig, mich vom Tod errettete und wundervoll hierher versetzte. Agamemnons und Klytemnestras Tochter ist’s, die mit euch spricht.

 

… merkte Alfred Stahr schon 1839 an: „Man vergleiche dies fleisch- und blutlose Redegerippe mit der seelen- und lebensvollen Ausführung, die, durchwärmt von der Glut der erhabenen Leidenschaftlichkeit, wie sie der Moment notwendig erheischt, uns in den letzten, sich immer steigernden Worten gleichsam den klopfenden Herzschlag einer von allen Schrecken der zurückgerufenen Erinnerung durchschauerten Seele hören lässt“, um dann die Versfassung der Stelle folgen zu lassen:

 

Sie rissen mich vor den Altar und weihten
Der Göttin dieses Haupt. – Sie war versöhnt:
Sie wollte nicht mein Blut und hüllte rettend
In eine Wolke mich; in diesem Tempel
Erkannt ich mich zuerst vom Tode wieder.
Ich bin es selbst, bin Iphigenie,
Des Atreus Enkel, Agamemnons Tochter,
Der Göttin Eigentum, die mit dir spricht.

 

Je nun. Abgesehen davon, dass Stahr ein wenig zu sehr versucht, ein „fleisch- und blutloses Redegerippe“ zu vermeiden und dadurch in seiner Prosa auf leichte Abwege gerät – der Vergleich zuwischen Prosa und Vers ist lehrreich und offenbart auch manches über den Blankvers!

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Erzählformen: Die Brunnenstrophe (22)

Um den in den letzten beiden Brunnenstrophen-Einträgen begonnenen Gang in die Gegenwart abzuschließen, hier ein Verweis auf an meinen vater von Arne Rautenberg, gestern auf faz.net im Rahmen der Frankfurter Anthologie von Kai Sina vorgestellt und besprochen, dazu von Thomas Huber gelesen. Eine Brunnenstrophe ist dabei allerdings nur die erste der drei verarbeiteten Strophen. Das gegebene Schriftbild sieht wüst aus:

 

für dich bin ich
gestorben
so wurds mir kolportiert
was zwischen uns
verdorben
hat unsern weg

markiert

 

Huber lässt sich im Vortrag davon allerdings nicht aus der Ruhe bringen und liest diese und die anderen beiden  Strophen als Einheiten. Deutlich aktuellere Brunnenstrophen werden sich kaum finden lassen; „an meinen Vater“ stammt aus einem 2017 erschienenen Lyrikband Rautenbergs, „nulluhrnull“.

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Erzählformen: Die Brunnenstrophe (21)

Je weiter man sich der Gegenwart nähert, je stärker hebt sich die Brunnenstrophe gegen ihre Umgebung ab. In Ingeborg Bachmanns „Sämtlichen Gedichten“ (Piper, 6. Auflage 2009) zum Beispiel findet sich auf Seite 144 „Bleib“. Die erste der drei Strophen:

 

Die Fahrten gehn zu Ende,
der Fahrtenwind bleibt aus.
Es fällt dir in die Hände
ein leichtes Kartenhaus.

 

Und was vor 150 Jahren eine gänzlich unauffällige Strophe gewesen wäre, sticht hier unter den davor und danach stehenden Gedichten (darunter durchaus einige Reimgedichte!) doch sehr heraus. Und damit müsste sich jeder abfinden, der diese Form nutzt: die Erinnerung an Vergangenes, und damit ein Eindruck von Unpassendheit im Jetzt. Den kann man nutzen für sich, oder gegen ihn ankämpfen; aber da ist er.

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Erzählformen: Die Brunnenstrophe (20)

Zum Guten oder Schlechten – die Brunnenstrophe klingt immer etwas romantisch und volkstümlich, oder zumindest erwartet man das von ihr. Werden andere Inhalte dargestellt, modernere: Klingt es oft etwas fremd. Das kann man schon an Ferdinand von Saars inzwischen gleichfalls nicht mehr ganz taufrischem „Arbeitergruß“ feststellen! Die ersten vier Strophen:

 

Vom nahen Eisenwerke,
Berußt, mit schwerem Gang,
Kommt mir ein Mann entgegen,
Den Wiesenpfad entlang.

Mit trotzig finstrer Miene,
Wie mit sich selbst im Streit,
Greift er an seine Mütze –
Gewohnheit alter Zeit.

Es blickt dabei sein Auge
Mir musternd auf den Rock,
Und dann beim Weiterschreiten
Schwingt er den Knotenstock.

Ich ahne, was im Herzen
Und was im Hirn ihm brennt:
„Das ist auch einer,“ denkt er,
„Der nicht die Arbeit kennt.“

 

Ein Arbeiter aus einem Eisenwerk – nichts, was man bei Brentano oder Eichendorff zu erwarten hätte! Aber die Strophe bewältigt selbstredend auch das.

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Erzählformen: Die alkäische Strophe (21)

Die deutschen Nachbildungen antiker Strophen reimen sich genausowenig, wie es ihre Vorbilder getan haben; und das aus gutem Grund. Rudolf von Gottschall hat trotzdem viele derartige Versuche unternommen, zum Beispiel in dieser selbstbezüglichen Strophe:

 

O zage vor dem kühneren Schwunge nicht,
Der alten Brauches sklavische Fessel bricht,
Der um die Regel, die uns bindet,
Zartere Blüten des Reimes windet.

 

Und zugegeben, das klingt gar nicht einmal so schlecht.  Trotzdem ist es keine alkäische Strophe mehr, denn das, was sie ausmacht – die beiden kleinen Bögen in V1 und dann V2, an die sich der große, durch V3 und V4 schwingende Bogen anschließt – wird hier durch die Reime zerstört, die, wie üblich, die Aufmerksamkeit weg von der Bewegung auf den Klang lenken, aber eben auch die Bewegung an sich zerstören. Ich denke, für die alkäische Strophe gilt, was für Hexameter, Distichon und all die anderen „alten“ Maße auch gilt: Ohne Reim ist sie besser dran.

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Klopstock und Besson

Für jemanden, der überhaupt nicht ins Kino geht (seit 30 Jahren nicht), lese ich erstaunlich viele Film-Kritiken … Im Falle von Luc Bessons „Valerian – Die Stadt der tausend Planeten“ lohnt das aber durchaus, denn zum einen gründet dieser Film auf einem Comic, den ich in jungen Jahren sehr gern gelesen habe; und zum anderen zählt er zu den Dingen, die entweder Begeisterung oder Abscheu hervorrufen.

Diejenigen Kritiker, die von einem Film Dinge wie eine Geschichte oder Charakterentwicklungen oder überhaupt erst einmal Charaktere erwarten, werden hier eher enttäuscht; wer sich dagegen an der schieren Menge von Einfällen besaufen möchte, bekommt nie zuvor Gesehenes im Übermaß geboten.

Bilge Ebiri bringt das bei the village voice so auf den Punkt:

Valerian and the City of a Thousand Planets is a movie made by someone who knows how to seduce our eyes and ears, and knows well enough to leave our brains alone.“

Und das hat mich an Lessing erinnert, der über eine von Klopstocks längeren Hymnen, „Die Allgegenwart Gottes“, so urteilte:

„Wenn ich Ihnen sagen sollte, was ich denn nun von der Allgegenwart Gottes mehr gelernt, als ich vorher nicht gewusst; welche von meinen dahin gehörigen Begriffen der Dichter mir mehr aufgeklärt; in welcher Überzeugung er mich mehr bestärket: so weiß ich freilich nichts darau zu antworten. Eigentlich ist das auch des Dichters Werk nicht. Genug, dass mich eine schöne, prächtige Tirade uber die andere angenehm unterhalten hat; genug, dass ich mir, während dem Lesen, seine Begeisterung mit ihm zu teilen geschienen habe: muss uns denn alles etwas zu denken geben?“

Eine andere Zeit, eine andere Sprache, ein anderes Medium; aber einige Dinge sind halt, was und wie sie sind …

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Hebbels Tagebücher

Heute habe ich einmal wieder mit genuss in Friedrich Hebbels Tagebüchern gelesen, genauer: in dem von 1848. Da stehen dann solche Einträge drin wie der vom 13. Januar:

Ein großer Leichenzug zieht eben an unserem Fenster vorbei. Der Tote muss zum Wenigsten Feldmarschall gewesen sein, denn ihm folgen ganze Regimenter mit Fahnen, Trommeln und Kanonen. Zum ersten Mal sehe ich ein Pferd, dem die Schleppe nachgetragen wird; ein schwarzes in schwarzem Flor. Meine Frau steht neben mir am Fenster und säugt ihr Kind, das mächtig trinkt.

„Ihr“ Kind meint allerdings schon „unser“ Kind (eine Tochter). Bei dieser Schilderung kommen Erinnerungen hoch an ein beim Verserzähler schon vorgestelltes, schönes Sonett Hebbels, siehe Sonett (2)!

Andere Einträge sind Gedanken zu zukünftigen Stücken, oft in der wörtlichen Rede. Am 20. Februar:

„Ja, würden die Jahre dessen, den ich tötete, meinen zugelegt, dann -„

Und manchmal sind es auch ganz allgemeine Gedanken, die aber immer eine bildhafte Form finden. Form! Am 7. Januar:

Was ist doch ein Mensch, dem die Form fehlt! Ein Eimer voll Wasser ohne den Eimer!

Wer gerne Tagebücher liest – das, und die anderen Hebbels lohnen sich auf jeden Fall!