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Das Königreich von Sede (34)

Der Eremit von Sede

In des Reiches größter und wichtigster Stadt,
Die mehr Bürger als der Himmel Sterne hat,
Inmitten gewaltiger Menschenmassen,
Die sich auf Plätzen, in Straßen und Gassen
Drängeln, dass man den Boden nicht sieht,
Lebt seit Jahrzehnten ein Eremit.
Ich kenn ihn seit langem, sein graues Gewand,
Seinen grauen Bart, in der nervigen Hand
Den knorrigen Stab, so schritt er schon oft
Grußlos vorbei, wenn wir unverhofft
Auf der Straße uns trafen. Heute nun wage
Ich endlich, ihn anzureden und frage:
Ist’s nicht Sinn Eures Lebens, einsam zu sein,
Der Menschen Gesellschaft zu meiden? Allein:
Ihr weicht nicht zurück vor der riesigen Menge
Und schreitet arglos durch‘s größte Gedränge!
Er schweigt und wedelt mit seinen Fingern
Seltsam Zeichen: Meine Sinne schlingern,
Dann kann ich – wie ist mir geschehen?
Die Stadt mit des anderen Augen sehen,
Und sehe sie leer! Wo Kinder liefen,
Wo Händler laut ihre Preise ausriefen,
Edle Frauen gemächlich wandelten
Und Mägde lautstark feilschten und handelten,
Ist nichts zu sehn als ein Fliegenschwarm,
Zu hören nichts als ein Summen. Der Arm
Wirft neue Gesten, und wunderlich
Dreht sich erneut die Welt um mich:
Ich bin wieder ich, meine Augen sehen
Vor mir den Eremiten stehen;
Noch einmal wedelt er die Insekten fort
Und dreht sich und geht ohne ein Wort.

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Bücher zum Vers (19)

Das deutsche Sonett. Dichtungen, Gattungspoetik, Dokumente.
Ausgewählt und herausgegeben von Jörg-Ulrich Fechner.

Erschienen bei Fink in München im Jahr 1969; also nicht mehr taufrisch. Aber da es ja im wesentlichen eine Stoffsammlung ist, vom Herausgeber ergänzt um eine kurze Einführung und eine knappe Geschichte des Sonetts, versehen mit einigen Anmerkungen; kann man den Band auch heute noch mit Gewinn zur Hand nehmen. Vor allem die aus den verschiedenen Jahrhunderten zusammengetragenen, zeitgenössischen Meinungen zum Sonett geben einen lehrreichen, weil unmittelbaren Blick auf die Gattungsentwicklung. Gottfried August Bürger, der das Sonett nach einer längeren Pause in Deutschland wieder beliebt machte, schrieb zum Beispiel dazu dieses:

Das Sonett ist übrigens eine sehr bequeme Form, allerlei poetischen Stoff von kleinerem Umfange, womit man sonst nichts anzufangen weiß, auf eine sehr gefällige Art an den Mann zu bringen. Es nimmt nicht nur den kürzeren lyrischen und didaktischen sehr willig auf, sondern ist auch ein schicklicher Rahmen um kleine Gemälde jeder Art, eine artige Einfassung zu allerlei Bescherungen für Freunde und Freundinnen.

Oha. Das klingt ja bald nach „Resteverwertung“. Dementsprechend haben die wahren Sonettisten Bürger diese Sätze meist übel genommen und tun das immer noch … Dabei hat er doch recht, der Mann.

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Erzählverse: Der Hexameter (25)

Friedrich Hölderlins „Die Eichbäume“

Ein recht kurzes Hexameterstück, das deswegen auch gern in der Schule behandelt wird. Wer mag, kann diesbezüglich ja googeln und schauen, ob er / sie den Ansprüchen einer gepflegten Schul-Interpretation noch gerecht zu werden vermag …

Hier soll’s aber eher um zwei Lesungen des folgenden Textes gehen. Vielleicht sprecht ihr ihn ja erst mal laut, dann könnt ihr euren Vortrag mit den beiden Beispielen unten vergleichen!?

 

Aus den Gärten komm ich zu euch, ihr Söhne des Berges!
Aus den Gärten, da lebt die Natur geduldig und häuslich,
Pflegend und wieder gepflegt mit dem fleißigen Menschen zusammen.
Aber ihr, ihr Herrlichen! steht, wie ein Volk von Titanen
In der zahmeren Welt und gehört nur euch und dem Himmel,
Der euch nährt‘ und erzog, und der Erde, die euch geboren.
Keiner von euch ist noch in die Schule der Menschen gegangen,
Und ihr drängt euch fröhlich und frei, aus der kräftigen Wurzel,
Unter einander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute,
Mit gewaltigem Arme den Raum, und gegen die Wolken
Ist euch heiter und groß die sonnige Krone gerichtet.
Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels
Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.
Könnt ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer
Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben.
Fesselte nur nicht mehr ans gesellige Leben das Herz mich,
Das von Liebe nicht lässt, wie gern würd ich unter euch wohnen.

 

Und hier die beiden Links:

Felicitas Barg

Lutz Görner

Hm. Bei mir klingt der Text irgendwie anders?! Vor allem beim Vergleich mit Görner liegt das daran, dass ich die Eingangsbetonungen auch immer halbwegs deutlich lese. Klar, Hölderlin hat’s hier ein wenig drauf angelegt – aus, in, und, der, mit, ist sind nicht gerade superstarke Silben -, aber so ganz fallenlassen, die erste Betonung?! Ich fürchte, dazu kann ich mich nicht aufraffen …

Aber auch Barg verwirklicht nicht jede im Metrum angelegte Hebung. Hier etwa:

Könnt ich die / Knechtschaft / nur er- / dulden, ich / neidete / nimmer

Da liest sie eine dreisilbige Senkung: „-schaft nur er-„. Na ja, kann man verstehen … Aber andererseits kann man doch auch die vom Metrum angebotene Möglichkeit wahrnehmen, das „nur“ nach dem sehr schweren „Knechtschaft“ herauszuheben?! Ach, der Möglichkeiten sind wie immer viele!

Aber klar: Hauptsache, es wird überhaupt laut gelesen. Wie geht dieser Hexameter aus Hölderlins „Wanderer“?

 

Unter dem Strauche saß ein ernster Vogel gesanglos

 

Ein sehr eindrücklicher Vers, ein starkes Bild; aber nichts beeindruckender – für mich – als das „gesanglos“. Aber zurück zu den „Eichbäumen“ – hier noch ein Link, diesmal ein Vortrag mit „Musikuntermalung“. Was der Text nicht braucht, aber eine Möglichkeit auch das, sicherlich:

Bernd Brosig

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Heinrich trifft den Teufel

Tief in der Nacht schwankt Heinrich vom „Tintenfässchen“ nach Hause,
Als er den Teufel bemerkt in einer der Buden am Marktplatz.
Dosenböses, ergiebig und haltbar! Das Böse in Dosen!
Ruft der und meint dann vertraulich: Nicht wahr, das kennen wir alle:
Plötzlich gierst du nach Bösem, und hast nichts, und kannst nichts bekommen;
Längst ist der Laden zu, und du schreist die verschlossene Tür an!
Hier ist die Lösung: Mein Dosenböses – das Böse in Dosen!

Heinrich leuchtet das ein, doch ach! er ist pleite, hat längst schon
Seinen Verstand versoffen; und gleich im Anschluss die Seele.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (18)

Der erste hier vorgestellte Text in trochäischen Vierhebern war ein „anakreontisches“ Gedicht von Ludwig Gleim; das ist lange her. Daher hier noch ein solcher Text von Gleim!

 

Bacchus und Cythere

Soll ich trinken, soll ich küssen?
Hier winkt Bacchus, dort Cythere,
Bacchus mit gesetzten Mienen,
Und Cythere mit verliebten.
Bacchus zeigt mir seine Reben,
Seht, sie sinken schwer von Trauben!
Aber seht nur, dort im Schatten,
Unter Reben, liegt ein Mädchen!
Seht, es schläft und lächelt schlafend,
O, wie süß mag es wohl träumen!
Seht, wie reizend liegt das Mädchen:
Um den weißen, regen Busen
Hangen schwarze, reife Trauben;
Um die rabenschwarzen Locken
Blühen schöne, gold’ne Blumen! –
Weingott, winke nur nicht länger,
Denn ich muss erst bei dem Mädchen
Unter deinen Trauben schlummern!

 

Das ist inhaltlich ein hübsches Nichts, wie alle diese Texte. Aber wie viele dieser Texte gefällt mir auch dieser, und gibt mir zu denken – einmal, weil es eine lernenswerte Kunst ist, aus „Nichts“ „Etwas“ zu machen, einen Gedanken auseinanderzufalten, ihm Raum, Leben und Bewegung zu geben; und zum anderen, weil auch dieser Text schön zeigt, welche Wirkungsmöglichkeiten der Sprache offenstehen in diesen gereihten, ungereimten trochäischen Vierhebern – es ist wieder das Spiel von Klangwirkungen und Wiederholungen, das den Text nicht langweilig werden lässt?!

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Das Königreich von Sede (33)

Prinz Klappstuhl sitzt beim ersten Licht am Fluss.
Er hat Papier und Tinte mitgebracht,
Und hier, am Wendepunkt von Tag und Nacht,
Fasst er in vierzehn Zeilen den Genuss,

Den jeder wache Geist empfinden muss,
Der sieht, wie durch des Dunkels strenge Macht
Der erste Strahl der Morgensonne lacht.
Ein letzter Reim noch – da! Er kommt zum Schluss,

Nimmt eine Flasche, grüßt mit ihr das Licht,
Setzt an und trinkt. Genießt den alten Wein;
Gibt in die leere Flasche das Papier,

Das seine Verse trägt, verkorkt sie dicht,
Holt aus, und wirft sie in den Fluss hinein;
Und hofft auf einen Leser, fern von hier.

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Erzählformen: Das Distichon (6)

Das folgende Stück Eduard Mörikes hat bei der Überschrift immer noch die Angabe „Mit einer Zeichnung“; ich wollte schon immer mal schauen, wie die wohl aussieht, bin aber nie dazu gekommen – sicher auch, weil die hier geschilderte Begebenheit an sich schon so bildhaft ist, dass eine Zeichnung nicht wirklich vermisst wird?!

 

Der Kanonier

Feindlich begegneten sich auf der Erde die Scharen des Himmels
Und der Höllen; es kommt eben zur förmlichen Schlacht.
Vorn auf dem Hügelchen steht so ein Bocksfuß bei der Kanone;
Sein stets rauchender Schwanz dient ihm als Lunte dabei.
(Etwas phantastisch geformt ist das Feldstück, Flügel des Drachen,
Statt der Räder, stehn hüben und drüben empor:
Denn man braucht dies Geschütz oft über den Wolken mit Vorteil
Bei Blockaden, da fliegt’s mittelst der höllischen Kunst.)
Aber der Kerl ist feige; denn während langsam der Schweif sich
Nach dem Zündloch bewegt, hält er die Ohren sich zu,
Über die Achsel nur schielend; doch jetzo drückt er die Augen
Fest zu, krümmt sich, und – Tupf! folgt der entsetzliche Knall.

 

Über die Verse als solche gibt es nicht viel zu sagen; sie sind, wie bei Mörike gewohnt, wunderbar im Gleichgewicht und bewegen sich aufs schönste. Ich habe für mich ja eine Abneigung gegen solche Bildungen wie „Bei Blockaden, da fliegt’s …“ – mir erscheint das „da“ immer herzlich überflüssig? Aber vielleicht wollte Mörike den sehr langsamen Eingang des Pentameters davor nicht wiederholen:

Statt der / der, / stehn ||

Beide Senkungen sind einsilbig besetzt, und das ist eher die Ausnahme als die Regel in Bezug auf die erste Hälfte des Pentamters?!

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Go: Der Post Mortem Monolog

Der Spieler, der heut nicht gewann,
zeigt aufs Brett und hebt dann an:

„Meine Gruppe, zugegeben,
war nur scheinbar schon am Leben.“

Der Spieler, der heut Zweiter war,
hebt die Hand und macht dies klar:

„Der Augenraum, ich seh es ein,
erwies sich schließlich als zu klein.

Das Verbinden, nicht zu fassen,
musst ich leider unterlassen.

Die Freiheit, es ist kaum zu glauben,
konnt er mir mit Vorhand rauben.“

Der Spieler, der heut bös verlor,
haut aufs Brett und hebt hervor:

„Dies erweist, ganz ohne Frage,
Pech als Grund der Niederlage!“

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Bücher zum Vers (18)

Volker Klotz: Verskunst. Was ist, was kann ein lyrisches Gedicht?

Noch recht neu (erschienen 2011 bei Aisthesis), 300 Seiten dick und, wie ich finde, recht empfehlenswert. Klotz geht sehr in die Einzelheiten, allerdings ohne dabei den Überblick zu verlieren, und so wird das Buch nie langweilig. Es gibt drei Teile: „Lyrik im Allgemeinen“, „Lyrik im Besonderen“, „Ineins: Singen und motorisches Tun“. Heißt: zuerst eine Art Einführung und Begriffsbestimmung, dann die Untersuchung einzelner Texte (von Fleming, Weckherlin, Zesen, Klopstock, Brentano, Mörike, Platen, Rilke und Brecht), und schließlich eine Betrachtung von Trinkliedern(!). Mir hat’s gefallen!