Erzählverse: Der Ioniker (2)

Das eine Gedicht, in dem Klopstock die Ioniker verwendet hat, steht im 20. Gesang seines „Messias“. Ich werfe mal einen „metrischen Blick“ auf diese Verse; Anschauungsmaterial ist immer gut!?

Klopstock hat den Langvers für den Druck in zwei Kurzverse zerlegt, die Grenze liegt dabei immer hinter der zweiten oder der dritten Einheit (Ausnahme: Vers 1); ich habe die Verse hier wieder zusammengesetzt und die Grenze mit „|“ gekennzeichnet.

Die von mir druntergeschriebenen Einheiten sind natürlich nur ein Vorschlag – manchmal sogar eher geraten: Ist „wenn sie all‘ einst vorbei sind“ nun „v v — — / v — —“ oder doch eher  „v v — / v v — —“?! In diesen Bereich zählt sicher auch, dass ich im Sinne der Regel („v v — —“) die Endung „-ung“ als schwer bewertet habe statt im Sinne der Ausnahme („v v — v“) als leicht. Falls sich also jemand die Mühe machen sollte, das durchzusehen, und dabei zu anderen Einheiten kommt – immer her mit den Vorschlägen!

So, nun aber zu den Versen. Ich beschränke mich auf sie in diesem Beitrag, werde aber in zwei kommenden Beiträgen noch kurz einige Anmerkungen machen.

01 Erwach, Harfengetön, und erhebe dich | dem Psalm nach zum Throne!
01 v — — /  v v — / v v — v / v v — — / v — v

02 Dein Flug sei des Unendlichen Lob, | des Herrn Preis dein Festlied!
02 v — — / v v — / v v — / v — — / v — —

03 O, ihm, dem mit Entzückung | Harmonie des Gestirnheers emporsteigt,
03 v — — / v v — — / v v — / v v — — / v — —

04 Und Erzengel entflammendes Lob | in dem Anschaun ertönen,
04 v — — / v v — / v v — / v v — — / v — v

05 O, lispl‘ auch, mein Gesang, sein Lob dem! | Von dem Grab auch vernehme
05 v — — / v v — / v — — / v v — — / v — v

06 Sein Lob Gott! Wie beginn‘ ich’s? wie vollend‘ ich’s? | O Vorschmack des Himmels,
06 v — — / v v — — / v v — — / v — — / v — v

07 Des Herrn Preis, wer singt Dich und erliegt nicht? | Was ihn sonst hob, versinkt jetzt,
07 v — — / v — — / v v — — / v v — — / v — —

08 Sein beseelteres Bild, wie der Schimmer | von dem Aufgang Gemäld‘ ihm
08  v v — / v v — / v v — v / v v — — / v — v

09 Voll Goldglanz, wird ihm Dämmrung. | Wie ich kann, mit der Nacht Schein im Bilde,
09 v — — / v v — — / v v — / v v — — / v — v

10 Mit Nachhall und Laut nur, | wenn der Chorpsalm zu dem Thron auf sich donnernd
10  v — — / v — — / v v — — / v v — — / v — v

11 Erhebt, sing‘ ich dem Herrn. | Wer gleicht Dir? Wer, o Gott, ist, wie du bist?
11 v — — / v v — / v — — / v v — — / v — —

12 Des Seins tiefen Entwurf entwarfst du, | eh Gefühl war, Gedanken
12 v — — / v v — / v — — / v v — — / v — v

13 Und Zweck war in der Endlichen Heer! | O der Aussaat, die, Gott, du
13 v — — / v v — / v v — / v v — — / v — v

14 Gesät hast und Aeon auf Aeon, | dass sie reift‘, aufgehäufet.
14 v — — / v — — / v — — / v v — — / v — v

15 O Ratschluss: Die Aeonen, | wenn sie all‘ einst vorbei sind, wird Ernte
15 v — — / v v — v / v v — — / v — — / v — v

16 Ohn‘ Aufhören am Thron sein! | Die Erschaffung zu des Sohns Heil hast dann du
16 v — — / v v — — / v v — — / v v — — / v — v

17 Vollendet! O, dann führt das Glück uns | und das Elend ins Lichtreich!
17 v — — / v v — / v — — / v v — — / v — —

18 Was einst uns, dem Beglückten und dem Dulder, | Labyrinthweg und Nacht war,
18 v — — / v v — v / v v — v / v v — — / v — —

19 Das führt uns zu dem ewigen Heil hin! | Indes welkt auf Erden
19 v — — / v v — / v v — — /  v — — / v — v

20 Der unsterbliche Mensch weg | und empfindet Herannahn des Todes,
20 v v — / v v — — / v v — v / v — — / v — v

21 Herannahn der Verwesung, | und verweint, in Wehklag‘ ergossen,
21 v — — / v v — — / v v — / v — — / v — v

22 Den Beginn des Daseins | und weiß doch, dass es Gott einst mit Wonne
22 v v — / v — — / v — — / v v — — / v — v

23 Vollbringt, er, der ihn auch zu dem Heil schuf! | Ja, so, Gott, vollbringst du’s!
23 v — — / v v — / v v — — / v — — / v — —

24 Ach, trüb‘ ist und Nacht ist der Gedanke, | dass ins Loblied der Himmel
24 v — — / v — — / v v — v / v v — — / v — v

25 Der Angst Stimme sich mischt, | und mit Tränen sich die Wehmut von Gräbern
25 v — — / v v — / v v — v / v v — — / v — v

26 Emporhebt ins Getön, wo Entzückung | der Chorpsalm zum Thron ruft
26 v — — / v v — / v v — — / v — — / v — —

27 Und sanft Lispeln den Harfen entlockt, | wenn in Dank weint die Wonne!
27 v — — / v v — / v v — / v v — — / v — v

Erzählverse: Der Ioniker (1)

Der Ioniker ist ein von Friedrich Gottlieb Klopstock Mitte des 18. Jahrhunderts erfundener Vers. Klopstock hat die theoretischen Grundlagen dieses Verses ausführlich dargelegt und hatte wohl auch große Pläne mit ihm; am Ende hat er aber nur ein einziges Gedicht geschrieben, das diesen Vers benutzt. Danach ist dieser Vers nicht wieder verwendet worden – niemals nicht, von niemandem!

Und das aus gutem Grund: der Ioniker verlangt metrische Grundeinheiten, von denen die einen sagen, es gibt sie im Deutschen nicht, und die anderen, es gibt sie zwar, aber sie sind so beschwerlich zu beschaffen, dass die Mühe nicht lohnt!

Daher sollte sich mit diesem Vers vielleicht besser nur auseinandersetzen, wer Geduld und Leidensfähigkeit mitbringt; und über eine gewisse „metrische Sicherheit“ verfügt. Die Belohnung besteht dann in einem Vers, der sich sehr fremd und doch auch anziehend bewegt!

Der Ioniker besteht aus drei metrischen Grundeinheiten:

Erstens, dem „Ionicus a minore“. Dabei folgen auf zwei kurze, unbetonte (= leichte) Silben zwei lange, betonte (= schwere) Silben. Im Schema: v v — —. Laut Klopstock ist diese Einheit die wichtigste.

Zweitens, dem „Bacchius“: Einer leichten Silbe folgen zwei schwere, im Schema v — —.

Drittens, dem „Anapäst“: Zwei leichten Silben folgt eine schwere. Schema: v v —.

Insgesamt hat der Vers fünf Einheiten. Nun darf aber nicht in jeder Einheit jede der drei obengenannten Möglichkeiten stehen. Klopstocks Übersicht sieht so aus:

.     1               2                 3                4              5
.            | v v — — | v v — — | v v — — | v —  v
v — — | v — —     | v — —    | v — —    | v — —
v v —  | v v —       | v v —

Also, man sieht: In der ersten Einheit kann ein Bacchius stehen oder ein Anapäst, aber kein Ioniker. In der zweiten und dritten Einheit können alle drei Füße stehen.

Die vierte und die fünfte Einheit bilden die „Kadenz“; die sieht im Regelfall so aus, v v — — / v — v, oder so: v v — — / v — —

Selten, aber immer mal wieder besteht die vierte Einheit aus einem Bacchius, dann sieht die Kadenz so aus, v — — / v — v, oder so: v v — / v — —.

Das wirkt zwar erstmal verwirrend, aber man findet doch durch! Ein Gedicht in diesem Versmaß besteht aus beliebig vielen Versen diesen Aufbaus.

Wie gesagt, Klopstock hat nur wenige Verse in dieser Versart geschrieben, und nach ihm niemand sonst. Es hat also jeder die Möglichkeit, den Vers für sich zu erkunden und zu gestalten. Das macht auch Spaß!  Und soooo seltsam sind diese „verdoppelten schweren Silben“ dann auch nicht, sie tauchen durchaus in normalen Texten auf!

Ich versuche mal einen richtigen Ioniker:

Ein Gedicht, das vom Hufschlag der Sinnsilben nicht auftönt, bewegt nicht.

Ein Gedicht, / das vom Hufschlag / der Sinnsil /-ben nicht auftönt, / bewegt nicht.

Was, wenn man das vollständige Schema bemüht, so aussieht:

.     1               2                 3                4              5
.            | v v — — | v v — — | v v — — | v —  v
v — — | v — —     | v — —    | v — —    | v — —
v v —  | v v —       | v v —

Aber ich denke, das ist auf Dauer nicht sehr übersichtlich; ich wechsle also doch auf die „Kurzform“:

v v — / v v — — / v — — / v v — — / v — v

Da ist eine besondere Bewegung erkennbar, oder?!

Klopstock hat noch zwei Anmerkungen zum Aufbau des Verses gemacht:

Einmal könne, in seltenen Ausnahmen, statt des Ionikus  v v — — auch der dritte Päon v v — v stehen aufgrund der Ähnlichkeit dieser beiden Einheiten; allerdings nicht als vierte Einheit, um die Kadenz nicht zu schwächen; und die metrische Einheit muss in einem solchen Fall auch eine Sinneinheit sein.

Zum anderen sollten laut Klopstock ohnehin die metrischen Einheiten oft mit den Sinneinheiten übereinstimmen.

Ich gebe zum Schluss noch drei Verse, die Klopstock als Beispiele geschrieben hat. Stört euch nicht an dem für Klopstock typischen religiösen Inhalt – einfach nur auf die Bewegung achten, bitte!

O entfleuch zum Gebein, ins Gefild, wo die Schlacht schweigt, Erobrer,
Und ruf dort dir selbst, Würgen, Weh zu, dass des Herrn Zorn nicht donnernd
Dir aufsteh, du den Wehruf des Gerichts von dem Thron her nicht tot hörst.

Mit diesen drei Versen wollte Klostock zeigen:

– den schnellsten Vers dieser Versart:

O entfleuch / zum Gebein, / ins Gefild, / wo die Schlacht schweigt, / Erobrer,

v v — / v v — / v v — / v v — — / v — v

Die ersten drei Einheiten sind mit dem Anapäst besetzt, der ja nur eine schwere Silbe hat; dadurch wird der Vers schnell. Auch die Schluss-Silbe, die ja leicht oder schwer sein kann, ist leicht besetzt.

– den langsamsten Vers dieser Versart:

Und ruf dort / dir selbst, Wür– / gen, Weh zu, / dass des Herrn Zorn / nicht donnernd

v — — / v — — / v — — / v v — — / v — —

Hier sind die ersten drei Einheiten mit Bacchius besetzt, der Vers wird langsam durch das Übermaß an schweren Silben. „Donnernd“ hat Klopstock wirklich als — — angegeben, was etwas seltsam ist. In diesem Vers stimmt an einer Stelle die metrische Gliederung nicht mit der Sinngliederung überein. Das ist aber der einzige Fall in allen drei Versen!

– den vielleicht schönsten Vers dieser Versart:

Dir aufsteh, / du den Wehruf / des Gerichts / von dem Thron her / nicht tot hörst.

v — — / v v — — / v v — / v v — — / v — —

„Schönste“ heißt hier natürlich, „schönste“ nach Klopstocks persönlichem Geschmack. Da muss jeder selbst schauen – mehr als ein Hinweis kann es nicht sein. Mir jedenfalls gefällt dieser dritte Vers sehr gut, von der Bewegung her!

Zufalls-Sonett

Der Töne Scharen suchen nach Posaunen.
Ein leises Rascheln, mäusefußgeboren.
Ein Rinnsal grünen Schleims verstaubt in Rohren.
Der Schlaf der Nacht gebiert im Kissen Daunen.

Aus Rascheln, Rinnen, Ton, Geburt: dem Raunen
Der Dinge strömt die Zeit, aus allen Poren
Des Seins entströmt die Zeit. Sie ist verloren
Und findet Heimstatt nur in Menschenstaunen.

Sekundenasche wirbelt hoch. Ihr Sinken
Bemerkt ein Gott und sinkt mit ihr dem Rachen
Des Nichts entgegen. Weiße Zähne blinken.

Ein Stein ruft Wellen, welche fern verflachen.
Zwei Katzen, milchbezaubert. Stilles Trinken.
Verwehte Hoffnung und ein Menschenlachen.

Erzählverse: Der Blankvers (8)

Hermann Hesses große Liebe zur Gartenarbeit spricht auch aus seinem „Tagebuchblatt“, das in „Hermann Hesse: Die Gedichte. 1892 – 1962“, erschienen 1977 bei Suhrkamp, auf Seite 667 zu finden ist. Dem Titel angemessen ist das Gedicht in sehr entspannten Blankversen geschrieben, die sich hier und da auch mal eine kleine Freiheit gönnen … Im gleich folgenden ersten Abschitt des Werkes sind das vor allem Abweichungen bezüglich der „Schwere Silben in die Hebung, leichte Silben in die Senkung“-Grundordnung!

Am Abhang hinterm Hause hab ich heute
Durch Wurzelwerk und Steine eine Grube
Gehauen und gegraben, tief genug,
Und jeden Stein aus ihr entfernt und auch
Die spröde, dünne Erde weggetragen.
Dann kniet ich eine Stunde da und dort
Im alten Wald und sammelte mit Kelle
Und Händen aus vermoderten
Kastanienstrünken jene schwarze, mulmige
Walderde mit dem warmen Pilzgeruch,
Zwei schwere Kübel voll, trug sie hinüber
Und pflanzte in die Grube einen Baum,
Umgab ihn freundlich mit der torfigen Erde,
Goss sonngewärmtes Wasser langsam zu
Und schwemmte, schlämmte sanft die Wurzel ein.

Der Einstieg ins Gedicht besteht aus sechs ganz gleichmäßigen Blankversen. Im siebten gibt es dann aber eine leichte Abweichung:

Im alten Wald und sammelte mit Kelle

Das gekennzeichnete „-te“ ist eine sehr leichte Silbe, besetzt hier aber trotzdem eine Hebungsstelle! Das ist bezüglich des Metrums noch machbar, denn die Nebensilben „-mel“- und „mit“, die ja Senkungen besetzen, sind ihrerseits auch ziemlich leicht, so dass kein größerer Verstoß fühlbar wird. Im Vortrag führt diese Silbenwahl allerdings ziemlich sicher dazu, dass alle drei Silben unbetont und schnell gelesen werden, der Vers also leichter wird und weniger umfangreich?! Der nächste Vers zeigt eine ähnliche Erscheinung:

Und Händen aus vermoderten

Selbst wenn das gerötete „-ten“ als Hebung zählt, ist der Vers nur vierhebig – aber das ist ja, wie schon besprochen, eine Möglichkeit, die dem Blankvers offensteht. Nimmt man die erste Silbe des Folgeverses dazu, steht das „-ten“ zwischen „-der-“ und „Kas-„, so dass es dem Metrum nach wieder auf einer Hebung stehen könnte; bei der Aussprache würde ich vermuten, dass diese Silbe „halbbetont“ gelesen wird, da der Versschluss ja doch immer leicht herausgehoben wird?! Auch im nächsten Vers gibt das Versende zu denken:

Kastanienstrünken jene schwarze, mulmige

Hier bietet das in Rot gesetzte „-e“ zwei Möglichkeiten – einmal, bei angenommenem strengen Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben, wäre es eine Hebung, der Vers also sechshebig und damit gleichsam ein Ausgleich zum vorhergehenden vierhebigen Vers; allerdings ist es schwer, das „-e“ dann auch irgendwie zur Geltung zu bringen, erst recht angesichts des am Anfang des nächsten Verses folgenden „Wald-„?!

Die zweite Möglichkeit ist, das „e“ als zweite unbetonte Silbe zu sehen, also eine zweisilbig besetzte Senkung anzunehmen:

x X x X x X x X x X x x

Das scheint mir am sinnvollsten, auch wenn derlei am Versende eher ungewöhnlich ist; dann ist der Vers fünfhebig und man liest das „mulmige“ einfach „wie immer“ …

Die bisher angesprochenen Verse hatten Hebungsstellen mit recht schwachen Silben besetzt; im folgenden Vers ist es genau andersherum:

Walderde mit dem warmen Pilzgeruch,

Das „im Wort“ eigentlich die Betonung tragende „Wald-“ steht hier auf einer Senkungstelle?! Na ja, das ist eine Sache, die nicht nur den Blankvers betrifft, sondern mit der alle alternierenden Maße zu kämpfen haben: die Wörter der Bildung „betonte Slibe – stark nebenbetonte Silbe – unbetonte Silbe“, wofür „Walderde“ ein Beispiel ist; und die schwer bis gar nicht eingepasst werden können in ein alternierendes Metrum.

Wenn man sie nicht einfach weglassen oder umschreiben möchte, sondern aus Gründen der Auflockerung doch in den Text nimmt, oder weil ohne sie eben nicht auszukommen ist: dann machen es die Dichter üblicherweise wie Hesse hier auch, sie setzen die stärker betonte Silbe in die Senkung und die schwächer betonte Silbe in die Hebung; im Vortrag führt das dann oft zu einer „schwebenden Betonung“, was heißt, dass die beiden Silben nahezu gleichstark betont werden; und dabei etwas schwächer als eine „normal“ betonte Silbe.

Sparsam eingesetzt, ist auch das eine willkommene Auflockerung des steten „Auf und Ab“, und vor allem im Verseingang stört es eigentlich kaum! Wenn nach einem derartigen dreisilbigen Wort zwei eher schwache Silben folgen, wie hier, kann man aber auch gut folgende Bewegungslinie lesen:

Walderde mit dem warmen Pilzgeruch,

Also vorne beide Silben kräftiger betonen, dafür die folgende Hebungssilbe (hier: „mit“) weitestgehend drücken. In meinen Ohren recht wohlklingend!

Nach diesem etwas aufgelockerten Mittelstück bietet der Absatz dann nur noch eine kleinere Abweichung:

Umgab ihn freundlich mit der torfigen Erde,

Im Gegensatz zu den schon genannten Versen ist das rote „-gen“ hier aber einfach nur Teil einer doppelt besetzten Senkung; als Hebung kommt es angesichts der starken Folgesilbe „Er-“ sicher nicht in Betracht!

Insgesamt zeigen die Beispiele aber sehr schön, wie locker und selbstverständlich die Sprache im Blankvers werden kann, ohne dabei das „Vers-Gefühl“ aufgeben zu müssen!

(Eine davon ganz unabhängige, mich aber doch störende Sache ist dieser „Steine eine“-Reim im zweiten Vers; solche unbeabsichtigten – ich nehme an, er war unbeabsichtigt – Gleichklänge lenken das Ohr nur ab … Aber das kann man natürlich auch anders sehen, äh: hören.)

Erzählverse: Der Blankvers (7)

„Der Blankvers ist ein alternierender, fünfhebiger und reimloser Vers“. Abweichungen von den ersten zwei der drei Bestandteile dieser Bestimmung kamen in den Beispielen der letzten Beiträge schon vor; hier soll es nun um das Einmischen von gereimten Versen gehen.

Das dient oft der Heraushebung besonderer Inhalte; es kann aber, wie im folgenden Text, einfach nur der Auszeichnung des Anfangs wie des Endes dienen. „Walter Höllerer: Gedichte 1942 – 1982“, erschienen 1982, enthält auf den Seiten 60 und 61 „Die Sprache dieser Jahre“, einen Text, der so losgeht:

Die Straße die uns auffing ist gefroren.
Sie spiegelt Lichter Treppen Post und Ware.
Sie liefert uns die Strafe dieser Jahre.

Sie sind ein Freund von warmen U-Bahn-Schächten?
Sie blasen in der Sonne gern Trompete?
Die Nase die ich aushing als ein Schild.
Das Ohr das mir ein Wörtchen apportierte:
Sie sind ein Freund von schweren Flugmaschinen?
Da ging die Straße auf vor unseren Füßen.

Blankverse eigenen Klangs schon dadurch, dass wirklich jeder einzelne Vers einen einzelnen Satz enthält. Auffällig aber vor allem der zweite und der dritte Vers, die gereimt sind! Danach gibt es weder im hier vorgestellten Text noch in den 27 darauf folgenden Versen einen Reim, ehe das Gedicht dann mit diesen Versen schließt:

Die Sprache tatzt sich vor in deine Höhle,
Vor der ich liege, und ich spitz‘ die Ohren.
Mein Fell im Rücken zittert. Deine Höhle –
Ich bin ihr Bär und bin ihr Hund –
Erfährt den jähen Riss im Hintergrund.

Da sind die Versenden wieder, wie am Anfang, ausgezeichnet: einmal der fünft- und der drittletzte Vers durch die Wiederholung des „deine Höhle“, und anschließend die letzten beiden Verse durch den Reim „Hund / -grund“; ein mehr an Ordnung, das aber gleich wieder vermindert wird dadurch, dass der vorletzte Vers nur vier betonte Silben hat (als einer von zwei Versen im ganzen Gedicht)!?

Nicht nur um Hervorhebung des Inhalts, sondern Inhalt selbst sind solche Verse in Goethes „Faust II“, „Innerer Burghof“; da ist Helena bei der Begegnung mit Faust schon aus dem antiken „Trimeter“ in den Blankvers gewechselt, in dem sie dann ihren Eindruck der zuvor von Lynceus gesprochenen Reimverse schildert:

HELENA
Vielfache Wunder seh‘ ich, hör‘ ich an,
Erstaunen trifft mich, fragen möcht‘ ich viel.
Doch wünscht‘ ich Unterricht, warum die Rede
Des Manns mir seltsam klang, seltsam und freundlich.
Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen,
Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt,
Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.

FAUST
Gefällt dir schon die Sprechart unsrer Völker,
O so gewiss entzückt auch der Gesang,
Befriedigt Ohr und Sinn im tiefsten Grunde.
Doch ist am sichersten wir übens gleich,
Die Wechselrede lockt es, ruft’s hervor.

HELENA
So sage denn, wie sprech‘ ich auch so schön?

FAUST
Das ist gar leicht, es muss vom Herzen gehn.

… und damit sind dann nicht nur die beiden im paargereimten Fünfheber angekommen, sondern auch Helena in Faustens nicht- und nachantiker Welt.

Man sieht: Der Wechsel vom Blankvers zum gereimten Fünfheber (und zurück) bietet mache bedenkenswerte Möglichkeit!?

Erzählverse: Der Blankvers (6)

Nach den letzten Beiträgen, die alle von Möglichkeiten handelten, den Blankvers-Aufbau aufzulockern, soll in diesem Beitrag wieder ein Text zu lesen sein, der den Blankvers ohne große Abwandlung auch über viele Verse „durchhält“; selbstredend, ohne dabei langweilig oder einschläfernd zu wirken!

Ausgeschaut habe ich mir dafür Theodor Storms „Geh nicht hinein“. Storm hat einige Blankvers-Texte geschrieben, lange wie kurze; dieser hier liegt in etwa in der Mitte.

Die einzige Besonderheit, die bisher noch nicht zu beobachten war: Storm trennt an den Absatzgrenzen einen Vers auf, so dass die erste Hälfte des Verses noch zum alten Absatz gehört, die zweite aber schon zum neuen. Das kennt man vielleicht eher aus dem Drama, wenn dort ein Vers auf mehrere Sprecher verteilt wird; aber der „erzählende Blankvers“ ist ebensogut aufteilbar!

 

Im Flügel oben hinterm Korridor,
Wo es so jählings einsam worden ist,
– Nicht in dem ersten Zimmer, wo man sonst
Ihn finden mochte, in die blasse Hand
Das junge Haupt gestützt, die Augen träumend
Entlang den Wänden streifend, wo im Laub
Von Tropenpflanzen ausgebälgt Getier
Die Flügel spreizte und die Tatzen reckte,
Halb Wunder noch, halb Wissensrätsel ihm,
– Nicht dort; der Stuhl ist leer, die Pflanzen lassen
Verdürstend ihre schönen Blätter hängen;
Staub sinkt herab; – nein, nebenan die Tür,
In jenem hohen dämmrigen Gemach,
– Beklommne Schwüle ist drin eingeschlossen –
Dort hinterm Wandschirm auf dem Bette liegt
Etwas – geh nicht hinein! Es schaut dich fremd
Und furchtbar an!

Vor wenig Stunden noch
Auf jenen Kissen lag sein blondes Haupt;
Zwar bleich von Qualen, denn des Lebens Fäden
Zerrissen jäh; doch seine Augen sprachen
Noch zärtlich, und mitunter lächelt‘ er,
Als säh er noch in goldne Erdenferne.
Da plötzlich löscht es aus; er wusst es plötzlich,
– Und ein Entsetzen schrie aus seiner Brust,
Dass ratlos Mitleid, die am Lager saßen,
In Stein verwandelte – er lag am Abgrund;
Bodenlos, ganz ohne Boden. – „Hilf!
Ach Vater, lieber Vater!“ Taumelnd schlug
Er um sich mit den Armen; ziellos griffen
In leere Luft die Hände; noch ein Schrei –
Und dann veschwand er.

Dort, wo er gelegen,
Dort hinterm Wandschirm, stumm und einsam liegt
Jetzt etwas – bleib! Geh nicht hinein! Es schaut
Dich fremd und furchtbar an; für viele Tage
Kannst du nicht leben, wenn du es erblickt.
„Und weiter – du, der du ihn liebtest – hast
Nichts weiter du zu sagen?“

Weiter nichts.

 

Im Original fehlen bei den „gebrochenen Versen“ die Leerzeilen, dafür ist der zweite Halbvers „rechts raus gesetzt“; da ich das hier aber gerade nicht hinbekomme, habe ich auf die Leerzeilen zurückgegriffen.

Dadurch ergeben sich dann scheinbar betonte Versanfänge; dem ist aber nicht so, oder doch zumindest nicht an diesen Stellen; ein einziger Vers, „Bodenlos, …“ beginnt aber wirklich betont, also unter Auslassung der einleitenden unbetonten Silbe.

Anlass des Gedichts war der Tod des sechzehnjährigen Sohns des Grafen von Reventlow; das dieser Storm beeindruckt hat, lässt sich, denke ich, aus den Versen ganz gut heraushören, die ja auch ohne Aufweichung des alternierenden Metrums etwas Bewegtes, ja Schroffes haben?!

Wer ein wenig im Netz stöbert, wird vermutlich das eine oder andere erläuternde zu diesem Text finden – er ist ja schon recht bekannt. Und das nicht zu unrecht, denke ich; ich habe ihn jedenfalls schon immer gemocht!

Erzählverse: Der Blankvers (5)

Dieser Beitrag ist mehr oder weniger eine Fortsetzung des letzten – es geht wieder um die Möglichkeiten, den Blankvers aufzulockern; und diese werden wieder an einem recht jetztzeitigen Beispiel verhandelt!

Eine Möglichkeit der Auflockerung, das meint: Die Freiheit, an einer Stelle, wo das Grundschema eine unbetonte Silbe vorsieht, auch einmal zwei zu setzen, also eine mehr; oder halt auch gar keine, also: eine weniger.

Das Beispiel stammt aus Michael Krügers „Idyllen und Illusionen. Tagebuchgedichte“, erschienen 1989 bei Wagenbach. Dort findet sich auf der neunten Seite:

Es geht um diesen Bach, um diese Schnecke,
um ihren Bettelgang von Stein zu Stein.
Es geht um Worte. Um die Fläche einer Hand,
die das Geheimnis hält. Um Märchen geht es,
um den Narr und seinen Becher voller Träume.
Es geht um Dinge, die wir glauben müssen,
die unsre Sterblichkeit bezeugen. Es geht um
Schönheit, Macht, Beschämung. Es geht um das,
was kein Gedächtnis hat: die Schnecke zweifelt
]nicht an ihrem langen Weg, der Bach
erneuert sich im Fließen: Trug wird Gesetz.

Die ersten beiden Verse sind tadellose Blankverse; danach wird es etwas unruhiger. Ich kennzeichne die entsprechenden Stellen mal in Rot:

Es geht um diesen Bach, um diese Schnecke,
um ihren Bettelgang von Stein zu Stein.
Es geht um Worte. Um die Fläche einer Hand,
die das Geheimnis hält. Um Märchen geht es,
um den Narr und seinen Becher voller Träume.
Es geht um Dinge, die wir glauben müssen,
die unsre Sterblichkeit bezeugen. Es geht um
! Schönheit, Macht, Beschämung. Es geht um das,
was kein Gedächtnis hat: die Schnecke zweifelt
! nicht an ihrem langen Weg, der Bach
erneuert sich im Fließen: Trug wird Gesetz.

Die beiden roten Rufzeichen am Anfang von V8 und V10 sollen auf die hier fehlende unbetonte Silbe am Versanfang hinweisen; beide Verse beginnen mit einer betonten Silbe. Die roten Silben im Versinneren zeigen an, wo zwei unbetonte Silben statt einer stehen!

Mir scheint, diese sechs Änderungen (gegenüber dem strengen Aufbau) schaden dem Text nicht, sondern fügen sich gut ein; geben ihm Abwechslung, ohne die „Grundtonart“ undeutlich werden zu lassen?!

Ein etwas schwierigerer Fall sind die drei orange gekennzeichneten Silben in V3. Hier muss man sich als Leser für eine der „Auflockerungs-Möglichkeiten“ entscheiden: Will man einen längeren Vers annehmen und den Vers mit sechs statt fünf betonten Silben lesen, was meint: „um“ betonen? Oder will man eine Erhöhung der Zahl unbetonter Silben nicht nur auf zwei, sondern sogar auf drei annehmen! Das wäre meine Wahl, denn einmal ist ein „um“ nicht wirklich wichtig genug, um es besonders herauszuheben; und zum anderen werden die drei unbetonten Silben mit Hilfe der durch den Punkt gekennzeichneten Sprechpause ja in zwei Gruppen getrennt, die für sich angenehm zu sprechen sind.

Insgesamt sind es also sieben Abweichungen auf elf Verse; für mein Ohr tut das dem Blankvers-Wesen des Textes keinen Abbruch. Natürlich, wenn man selbst anfängt, Blankverse zu schreiben, sollte man vielleicht erst einmal nur vorsichtig von solchen Möglichkeiten Gebrauch machen?! Aber allgemein spricht sicher nichts dagegen.

Erzählverse: Der Blankvers (4)

Wenn sich Ewald von Kleist, oder einer der anderen Väter des deutschen Blankverses sich in einer Zeitmaschine ins Heute begäbe, um zu sehen, wie sich der Blankvers denn heute so darstellt: wäre er vielleicht ein wenig enttäuscht, denn eigentlich sieht der immer noch genauso aus und hört sich auch noch genau so an wie vor 250 Jahren … Kleist könnte das zum Beispiel feststellen anhand von Thomas Rosenlöchers 1998 bei Suhrkamp erscheinenen Bändchen „Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee. 77 Gedichte“.

Da geht etwa auf Seite 25 das Gedicht „Der Organist“ los wie folgt:

Bei seinem Herrgott, den er einst mit Flöten,
achtfüßig links Posaunen im Pedal,
gerufen hat, die Erde zu vergessen,
geht er nun ein und aus, der Organist,
und steigt doch gern bei gutem Erdenwetter
ins Tal hinab zur großen Wolkenorgel.

Blankverse, von der Form her genauso regelmäßig wie die von Geibel, Rilke, Kleist oder Goethe?! Aber ich gebe zu, schon auf der gegenüberliegenden Seite 24 geht es am Anfang von „Dädalus“ nicht ganz so regelmäßig zu:

Am Feldrain stand ich und sah auf zur Sonne,
die brannte lichterloh. Der Acker dörrte.
Das Kornfeld strähnten klirrende Akkorde
und alt war diese Erde, alt,
wer kann das noch ermessen, dachte ich
und harrte aus. Denn in der Zeitung stand,
dass Dädalus vorüberflöge
hoch über diesen Ort.
Ein dunkler Punkt wuchs in der Ferne
allmählich an. Längs einer Ackerfurche
schleppte sich wer. Umging die Maulwurfshügel
und klapperte zum Gruß mit seinen Flügeln
dermaßen hölzern, dass die Lerchen
aufstoben, eine Wolke
vorm Mittagsstern, die sang, bis sie sich legte.

Das klingt doch schon wesentlich unruhiger; diese Unruhe kommt aber durch nichts zustande, was sich die Blankvers-Dichter nicht seit altersher erlaubt hätten!

Am auffälligsten sind sicher die sechs kürzeren Verse: ein einzelne Vierheber, eine Gruppe von zwei Versen, deren erster ein Vierheber ist, während der zweite nur drei Hebungen hat; und einmal ein Zurückfallen von fünf über vier auf drei Hebungen samt Rückkehr über vier Hebungen hin zu fünf – das meint die fünf Verse von „und harrte“ bis „Ackerfurche“.

Sechs verkürzte Verse, von insgesamt fünfzehn; das ist eine ganze Menge.  Trotzdem denke ich, dass dies ein Text in Blankversen ist, den deren Bewegung ist doch ziemlich deutlich die Bezugsgröße, an der sich alles ausrichtet?!

Eine andere schon immer genutzte Abweichung vom normalen Versbau ist der Austausch eines „x X x X“ gegen ein „X x x X“, fast immer am Versanfang oder beim Wiedereinsatz nach der Zäsur; wenn man so will, eine „versetzte Betonung“. Hier kommt sie in diesem Vers vor:

schleppte sich wer. Umging die Maulwurfsgel

X x x X || x X x X x X x

Eine Möglichkeit, dem Vers mehr Abwechslung zu geben, die nicht nur der Blankvers, sondern eigentlich jeder Vers hat, der, unbetont beginnend, betonte und unbetonte Silben wechseln lässt.

Also, alles schon dagewesen; und vielleicht wäre Kleist ja auch ganz zufrieden gewesen ob der heutigen Blankverse?!

Rosenlöchers Verse sind jedenfalls ein für mein Ohr recht gelungenes Beispiel fürs „moderne Erzählen in Versen“, und sie zeigen gut zwei Möglichkeiten auf, den Blankvers abwechslungsreicher zu gestalten: Einmal die Verkürzung einzelner Verse (eine Verlängerung ist natürlich genauso gut möglich!), und zum anderen die „versetzte Betonung“.

Erzählverse: Der Blankvers (3)

Ging es im letzten Beitrag um den Einschnitt in der Mitte des Verses, so soll es hier darüber hinaus um das Versende gehen.

So wie ein Satz ein Ende hat, und im Inneren eine Unterteilung in mehrere Glieder; so hat auch ein Vers ein Ende und ist unterteilt. Nun können sich Satz- und Versende auf zwei Arten zueinander verhalten: Entweder sie entsprechen sich, dann endet der Satz mit dem Vers, und oft sind beide deckungsgleich. Oder aber, der Satz geht über das Versende hinweg, dann endet der Satz aller Wahrscheinlichkeit nach im Einschnitt des Folgeverses. Natürlich kann ein Satz sich auch über mehrere Verse erstrecken, aber ich bleibe mal, im wesentlichen, bei diesen beiden Möglichkeiten – der Satz endet am Versende, der Satz endet in der (folgenden) Versmitte -, weil sie den Blankvers ganz unterschiedlich klingen lassen!

Als Beispiel für das „Satzende in der Versmitte“ nehme ich Ewald von Kleists „Cißides und Paches“, im Erscheinungsjahr 1759 einer der allerersten Blankvers-Texte im Deutschen. Der vorgestellte Abschnitt klingt altersbedingt etwas seltsam, aber ich denke, da sollte man nicht zu schnell urteilen – Kleist war ein wirklicher Dichter, und wenn man sich einlässt, dann merkt man das auch schnell. Beschrieben wird eine Belagerung:

Den tapfern Parmeo durchbohrt ein Pfeil;
Simotes auch. Dem Zelon, der allein
Ein Heer an Mut und Geiste war, zerschlug
Ein Felsstück beide Bein‘. Er lebte lang
Ein grausam Leben, und verbiss den Schmerz
Voll Großmut. Endlich fand sein Bruder ihn
Im Kampf mit Schmerz und Tod, und schlug, erblasst,
Die Hände über sich zusammen. Selbst
Dem Tode für Entsetzen nah, verband
Er den Geliebtesten. Ein Tränenbach
Floss ihm vom Aug. „Ach Bruder, endige
Mein Leben! Endig es, o du, um den
Es mir allein gefiel“, sprach Zelon. „Nimm
Mein unnütz Gold von mir, dass du, und nicht
Der Feind verdient“ – allein der Bruder weint,
Und ging davon. „Verlässest du mich auch?“,
Rief Zelon, „Gönnst du mir langsamen Tod?“

Das wichtige ist nun aber auch nicht der Inhalt, sondern die Art, wie Kleist die (übrigens immer betont endenden) Verse und die Sätze daran hindert, sich zu entsprechen. Wieder und wieder wird der „Punkt“ in der Versmitte gesetzt, und manchmal sogar kurz vor Versende, so dass nur noch ein Wort des neuen Satzes den Vers schließt. Hier stehen Satz und Vers also im Streit, und oft ist die Pause in der Versmitte so lang, dass sie den Vers fast zerreißt; so wie der Vers den Satz zerreißt.

(Wer es wissen möchte – der Bruder kehrt zurück und tötet Zelon, indem er ihm einen Pfeil ins Herz schießt.)

Als Gegenstück bemühe ich Johann Wolfgang Goethes „Iphigenie“, also zum ersten Mal einen Dramentext als Beispiel. Thoas im Gespräch mit Iphigenie:

Drum endige dein Schweigen und dein Weigern!
Es fordert dies kein ungerechter Mann.
Die Göttin übergab dich meinen Händen;
Wie du ihr heilig warst, so warst du’s mir.
Auch sei ihr Wink noch künftig mein Gesetz:
Wenn du nach Hause Rückkehr hoffen kannst,
So sprech ich ich dich von aller Fordrung los.
Doch ist der Weg auf ewig dir versperrt,
Und ist dein Stamm vertrieben oder durch
Ein ungeheures Unheil ausgelöscht,
So bist du mein durch mehr als ein Gesetz.
Sprich offen! und du weißt, ich halte Wort.

Jeder Satz ein Vers, und jeder Vers ein Satz – zumindest am Anfang. Bei „… durch // ein … schleicht sich dann kurz einmal etwas Bewegung in den sonst würdevollen, gemessenen Vortrag; doch das legt sich schnell wieder, und nach Iphigenies Antwort – „Vernimm! Ich bin aus Tantalus‘ Geschlecht.“ sagt Thoas dann einen dieser aus Stein gemeißelten Wucht-Sätze:

Du sprichst ein großes Wort gelassen aus.

Und mehr Satz-Vers-Übereinstimmung geht eigentlich nicht! (Ob Goethe wohl geahnt hat, dass er mit derlei Sprüchen Generationen von Zitatensammlungs-Herausgebern ernähren wird?!)

Na gut, noch mal knapp zusammengefasst: Ein fünf- oder sechshebiger Vers hat zwei äußerst wichtige Stellen – einmal den Einschnitt im Inneren des Verses, einmal das Versende. Wie sich diese beiden Stellen zum Satz verhalten, besonders zu dessen Ende: bestimmt die Wirkung des Textes in einem sehr hohen Maße. Darauf zu achten, lohnt beim eigenen Schreiben also ganz sicher, selbst wenn man, was ja wahrscheinlich ist, auf einem Mittelweg bleibt und die Dinge nicht so weit treibt wie Kleist und Goethe in den gezeigten Beispielen.