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Erzählformen: Das Distichon (68)

Gedichte über die Form, in der diese Gedichte geschrieben sind, führen nirgendswohin; ein Kreisen um sich selbst und in sich selbst. Dem sich die Verfasser aber zu allen Zeiten nicht verweigert haben, jedenfalls dann, wenn die Form selbst genügend Gewicht hatte, um als Gegenstand eines Gedichts dienen zu können.

Das ist beim Distichon ganz sicher der Fall. Von Friedrich August Gotthold stammt dieses Doppeldistichon über die Entstehung des Verspaares:

 

Immer zu wandeln allein! rief einst der Hexameter klagend;
Echo tönte zurück: Immer zu wandeln allein!
Und von der Nymphe belehrt erzeugt‘ er sich selbst den Gefährten,
Zweimal sprechend das Wort: Immer zu wandeln allein.

 

Ich begegne ihm immer mal wieder (es findet sich in verschiedenen Metriken und Verslehren des 19.Jahrhunderts) und muss zugeben, ihm noch nicht ganz auf die Schliche gekommen zu sein; aber nun ja, da war eben diese Sache mit dem „Kreisen um sich selbst“ …

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Genie und Wahnsinn

Der Sohn des im gestrigen Eintrags angeführten Philologen und Schriftstellers Johannes Minckwitz hieß übrigens auch Johannes Minckwitz und war ein vergleichsweise guter Schachspieler, nicht allzuweit hinter den Besten. Schriftstellerisch tätig war er aber doch, er hat einige zu seiner Zeit vielbeachtete Schachbücher geschrieben, darunter eins über den Schachweltmeisterschaftskampf 1886 zwischen Wilhelm Steinitz und seinem Herausforderer Johannes Hermann Zuckertort.

Alle drei, die beiden Spieler wie der Berichterstatter, nahmen allerdings ein unschönes Ende: Zuckertort war nach seiner Niederlage ein gebrochener Mann, der zwei Jahre später, 1888, an einem Schlaganfall starb; Wilhelm Steinitz setzte der Verlust seines Weltmeistertitels im Jahre 1894 gleichfalls so heftig zu, dass er wiederholt in Nervenheilanstalten eingewiesen werden musste und kurz vor seinem Tod im Jahre 1900 glaubte, Schachfiguren mit Hilfe von aus seinem Körper strömender Elektrizität bewegen zu können; und auch Johannes Minckwitz musste 1894 in eine Nervenheilanstalt, ehe er 1901 von einer Straßenbahn überfahren wurde, vor die er sich wohl selbst geworfen hatte, und als letzter von den dreien starb.

Aber Minckwitz war nicht nur ein starker Schachspieler, sondern auch ein geistreicher Erfinder von Schachrätseln – einige seiner Aufgaben sind auf Turnieren mit Preisen ausgezeichnet worden. Die folgende Stellung allerdings ist ein sehr einfaches Problem, eigentlich mehr eine Fingerübung, veröffentlicht 1866 in der „Schachzeitung“:

[fen]5K1k/8/7p/6p1/8/3B2PP/8/8 w – – 0 1[/fen]

Die Forderung lautet: Weiß am Zug setzt mit seinem fünften Zug matt. Da der weiße Läufer dem auf einem schwarzen Feld stehenden schwarzen König nichts wird anhaben können, ist klar, dass die beiden weißen Bauern ins Geschehen eingreifen müssen:

  1. g3-g4   h6-h5
  2. h3-h4! h5xg4
  3. h4xg5  g4-g3
  4. g5-g6   g3-g2
  5. g6-g7 matt.

Schlägt Schwarz im zweiten Zug den anderen Bauern, 2 … g5xh4, spielt Weiß 3. g4-g5 und weiter wie in der Lösung bis zum Bauernmatt auf g7.

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Erzählformen: Das Distichon (68)

Johannes Minckwitz findet in seinem „Lehrbuch der rhythmischen Malerei der deutschen Sprache“ viele blumige Worte; die folgenden gelten dem Distichon.

Die allgemeine Bewegung des Ganzen ist eine spondeisch-daktylische, reich an Wechsel von Anfang bis zu Ende, uneingeschränkt im Hexameter und in der ersten Hälfte des Pentameters, in der zweiten indessen auf den bloßen daktylischen Wechsel angewiesen. Frei sich entfaltend und schwungvoll in ihren Rhythmen sich fortbewegend, schließt die Strophe leichten Tanzes, allgemach ihre Schwingen niedersenkend, so dass sie den Lauf ihres Stromes in sich selbst vollkommen abrundet. Die Melodie desselben ist eine kräftige, rasch auf- und absteigende, sich wiegende und sanft verhallende Tonweise, von Länge nur gering und auf zwei Hauptströmungen beschränkt, deren zweite gleichsam das gebrochene Echo der ersten ist.

Nun ist zum Distichon alles und sein Gegenteil geschrieben und gesagt worden; man muss sich sein eigenes Bild machen. Dabei hilft aber das Zur-Kenntnis-Nehmen solcher Beschreibungen ganz sicher, auch wenn sie vielstimmig sind, nicht immer dasselbe sagen; irgendwo, in der Mitte von all dem, liegt die Wahrheit.

Wobei mir Minkwitz‘ Ausführungen, das sei gesagt, schon recht einleuchtend erscheinen?! In seinen Beispielversen vergleicht er den Distichonklang mit  der „Musik lieblicher Seemelodien“,

 

Welche die Wog‘ aufsteigend erhebt und in Schwingungen fortsetzt,
Bis sie, geborsten, im Ton fallender Wasser zerrinnt.

 

Das ist ein ziemlich stark antikisierendes Distichon:

Welche die / Wog‘ auf- / steigend er- / hebt || und in / Schwingungen / fortsetzt,
Bis sie, ge- / borsten, im / Ton || fallender / Wasser zer- / rinnt.

— ◡ ◡ / — — / — ◡ ◡ / — || ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — —
— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —

Der Vortrag ist dementsprechend nicht ganz so einfach, sollte aber gelingen?! Insgesamt unter den vielen Beispielen, das Distichon an und durch sich selber zu beschreiben, ein guter Versuch; aber keiner der besten …

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Erzählformen: Das Distichon (67)

Paul Heyses „Favete linguis“ („Schweigt!“) ist ein Gedicht, das ich nicht mag – als ganzes; einzelnes daraus schon. Die ersten beiden Distichen zum Beispiel:

 

Da ich ein junger Gesell, wie schalt mich oft die Geliebte,
Wenn ich in Schweigen versank mitten im lachendsten Glück,
Um erst ferne von ihr in beflügeltem Wort zu ergießen
All der Gefühle Gewalt, die mir die Nahe geweckt.

 

– Schön! Aber, wie sich gleich herausstellen wird, nur die eine Hälfte einer Entsprechung:

 

So auch wandelt‘ ich stumm vorbei an den holden Gebilden
Südlicher Kunst; erst spät kam das Erlebnis zu Wort.

 

„Holde Gebilde“?! Hm … Dann aber wieder etwas feines:

 

Ist doch Denken Erinnern, und Dichten ein inneres Anschaun;
Worte beschwören den Geist, der sich den Sinnen entzog.

 

Klar, genau und auf den Punkt gesagt! Dahinter aber schließt ein kraftloses, wenig überzeugend gebautes und irgendwie überflüssiges Distichon das Gedicht:

 

Nachzubeleben entschwundenes Glück vermag die beseelte
Rede; lebend’gem Genuss g’nügt ein verworrenes „Ach“.

 

Deutschlands erster literarischer Nobelpreisträger hat eine Menge Verse geschrieben; das meiste davon nicht schlecht, aber eben auch nicht besonders gut. Die Verse hier sind ein gutes Beispiel …

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Die Frage bleibt

Beim Auf- und Umräumen ist mir einer der Romane meiner Jugend in die Hände gefallen (heute lese ich keine mehr), „Das Volk der Lüfte“ von Peter S. Beagle, erschienen 1988 bei Klett-Cotta. Darin finden sich auf Seite 106 diese Sätze eines Lautenisten:

Musik sollte etwas ein, das zum Alltag gehört. Man sollte aufhören, die Stücke eines Komponisten zu spielen, sobald der letzte, der weiß, was sie bedeuten, gestorben ist. Der letzte, der die Geräusche noch gekannt hat. In dem Zeug, das ich spiele, stecken Falkenschellen und das Knirschen von Mühlrädern und Lanzenspitzen, die scharf geschliffen werden. Nachttöpfe, die aus dem Fenster geleert, Ruderreihen, die rasselnd ins Wasser getaucht werden. Leute, die schreien, weil der Henker ihnen das Herz eines Hingerichteten zeigt. Ich kann die Geräusche nicht hören, ich spiele nur die Noten. Das müsste verboten sein.

Ja. Das gilt zwar der Musik, gibt aber auch jedem, der der Meinung ist, die alten Formen der Dichtung, und auch die in ihnen verwirklichten Inhalte,  könnten heute noch eine Rolle spielen, beträchtlich zu denken …

Wenn man das mit dem „die Noten spielen“ aber heute nicht lässt, klingt das bezüglich der Laute und der Renaissance (& zum großen Ärger vieler) zum Beispiel so: John Dowland, Come again.

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Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (21)

Ich glaube, die guten Dichter unterscheiden sich von den schlechten nicht dadurch, dass sie bessere Verse machen – einen guten Vers bekommt auch der Stümper hin, der Unterschied liegt darin, dass bei den Könnern jeder Vers eines Gedichts gut ist.

Rochus Otto Manderup Heinrich zu Lynar (welch Name!) beginnt sein Erzählgedicht „Die Kellnerin“ so:

 

Auf der breiten, kunstgerechten Straße
Fuhr ich einsam hin, verdrießlich sinnend;
Und des Unmuts wetterschwere Wolken
Türmten sich am Horizont der Seele.
Eilst du wieder, sprach ich zu mir selber,
Zu dem reichen Markte, wo die Güter
Aller fremden Zonen leicht sich tauschen;
Wo ein ewig reges Leben waltet
Und ein Jeder zu erwerben trachtet?

 

Das klingt doch gar nicht schlecht! Aber als „Ich“ – wie nach dieser Einleitung nicht anders zu erwarten – in einem Gasthaus einkehrt, wandelt sich etwas im Ton:

 

An dem Tisch‘, aus kühlem Stein‘ gehauen,
Setzt‘ ich auf die kleine Bank mich nieder,
Harrend, dass man mir Erfrischung reiche.
Da erschien, wie aus der Fabel Zeiten,
Mir ein feenhaftes Wesen, lieblich,
Wie die jüngste Nymphe dieses Tales,
Reizend, wie man sich die Hebe dachte,
Wenn sie einem Sterblichen erschienen,
Ihn durch Himmelsgabe zu vergöttern;
Und ich musste die umwölkten Sinne
In die Wirklichkeit gewaltsam rufen,
Um das holde, reizend schöne Mädchen
Als des Wirtes Tochter zu begrüßen.

 

Das klingt schon sehr viel weniger eigenständig?! Noch nicht wirklich schlecht, und der trochäische Fünfheber fängt sicher auch einiges auf; aber Dinge wie das „holde, reizend schöne Mädchen“ sind eine Leerstelle, eine Versfüllung …

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Bild & Wort (216)

Hm. Ich habe viele Schach-Strips gemacht unter dem Titel „… und MATT!“; dieser hier ist wohl auch Nichtschachspielern verständlich?!

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Erzählformen: Das Distichon (66)

„Wechselrede im Blankvers“ führte der letzte Eintrag vor; „Wechselrede im Distichon“ ist es diesmal.

 

Reinhold Forsters Grab

Der Wanderer
Grab, wen beherbergst du?

Das Grab
Den gewaltigen Reisegefährten
Cooks, den ein Unglücksgestirn einst nach Owhyhee geführt.

Der Wanderer
Herrlicher! Du, dem zu eng vier geräumige Weltteile schienen,
Bergen vier Bretter dich nun ewig in finsterer Gruft?

Das Grab
Klage nicht! Sieh, es beschifft nur des stillen Ozeans Straße,
Ruhiger Heimat zusteuernd, der Dulder aufs neu:
Dieses Haus hier verschließt sein lästiges Reisegeräte.
Wanderer, wünsche dem Greis eine geruhige Fahrt!

 

So Johannes Daniel Falk. Redende Gräber finden sich in Gedichten dieser Art häufiger; spannend aber die Aufteilung des ersten Hexameters, und der Pentameter

Ruhiger / Heimat / zu|| steuernd, der / Dulder aufs / neu:

ist bemerkenswert, weil der den Einschnitt in der Mitte des Verses, das Zusammenstoßen zweier schwerer Silben, mit einem dreisilbigen Wort „überdeckt“! Das ist eigentlich nicht vorgesehen – Conrad Beyer sagt  in seiner „Deutschen Poetik“, das sei eine Stelle im Vers,

wo auch im Lesen eine Pause zu machen ist, so dass diese als Incision erscheint. Es ist ein Fehler, dass August Wilhelm Schlegel diese Incision durch ein umklammerndes Wort überbrückt hat, vergleiche sein „Rom“: „Priamus auch und des schwert- || schwingenden Priamus‘ Volk.“

Nun ja. Die Dichter haben trotzdem gemacht, was sie wollten, und wenn derartige „Umklammerungen“ auch nicht häufig sind – man findet sie, und gar nicht  sooo selten! (Die Art, wie sie Schlegel handhabt, gefällt mir dabei besser als die Falks.)

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Erzählverse: Der Blankvers (94)

Der Blankvers kann so gut wie alles, und daher auch: ein Gespräch abbilden. Wenn man es allerdings mit dem Umgangssprachlichen übertreibt, und dann noch viele Sprecheinsätze hat, kommt auch dieses Maß an seine Grenzen! Ein Beispiel sind „Die spielenden Kinder“ von Christian Friedrich Scherenberg:

 

Wohin führt diese Straße, Kind? „Wohin?
Das wisst Ihr nicht einmal! In unser Dorf.“
In euer Dorf! Das hätt‘ ich allerdings
Wohl wissen können. ’s ist wohl groß? „Ach! Das da
Sind alles meine Brüder, die da spielen.“
So. Und was spielen sie denn? „Nichts – sie spielen –
Sie bauen – graben Erde auf und zu.“
Was baut ihr? „Vaters Haus – bau’n Vaters Haus!“
In’s Fahrgeleis! Der heiligen Sicherheit!
Des Vaters Haus? Da seid ihr liebe Kinder!
„Ach ja, wir kommen alle in den Himmel.“
So? „Ja.“ „Das heißt, wenn wir recht artig sind.
Ich bin schon älter, Herr.“ Das höre ich.
Wo ist der Himmel denn? „Da!“ Ja, da ist er:
Wohin ihr seht, da ist der Himmel auch.
Ja: Da! Mehr sagt auch nicht der Weisteste.
Ich spiele mit. Ihr grabet auf – ich zu –
Dazwischen liegt das Spiel. Nicht wahr, Vernünft’ger?
Lasst euch nicht stören! „Stören lassen sie
Sich nicht.“ Hast Recht – der eitlen Sorgen nur!
Wie sie es fassen, halten, das warme Jetzt,
Das frisch-unmittelbare Sein des Lebens!
Da ist Gedanke, Wille, Tat nur eins,
Ein einz’ger Griff nur Same, Blüte, Frucht,
Und alles Blüte wieder im Genuss.
Wer störte sie, die Herrn der Welt. Sie haben.

 

– Und immer so weiter noch ein ganzes Stück lang. Das wäre auch dann schwer zu lesen, meint: es wäre schwer, den Vers als Einheit hörbar werden zu lassen, wenn die Hebungen deutlicher beetzt wären als hier an vielen Stellen; so, wie es ist, ist es eine ziemliche Herausforderung! Am Schluss dieses Abschnitts sind es ausnahmsweise einmal „richtige“ Blankverse, und da ist dann sofort ein großer Unterschied vernehmbar.

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Erzählformen: Die Brunnenstrophe (18)

Frösche sind beim Verserzähler recht häufig vertreten, da sie im „Königreich von Sede“ eine der Hauptrollen spielen! Da wundert es nicht, wenn ich beim Durchsehen von Gedichtsammlungen besonders auf Froschgedichte achte. Heute fiel mir eines von Karl Geisheim auf, „Frühlingsmusikanten“, aus dem ich drei Strophen vorstelle:

 

Quak, quak! so ging’s im Teiche,
Quak, quak! stimmt alles ein:
Kommt, kommt, ihr lieben Leute,
Der Frösche Gast zu sein.

Denn wahre Hexenmeister
Die Herren Frösche sind;
Man sieht sein blaues Wunder,
Wenn ihr Gesang beginnt.

Das fahle, graue Röckchen
Der Mutter Erde schwand,
Frosch rief sich einen Schneider,
Der hat es Grün gewandt.

 

Das ist … harmlos, aber immerhin auf recht niedliche Weise harmlos; und in der Brunnenstrophe auch in einer Form dargestellt, die diese Harmlosigkeit gutheißt und lächelnd unterstützt. Wobei die Frühlingskünste der Frösche am Ende noch relativiert werden:

 

Da will der Frosch wohl sagen:
Seht, das hab‘ ich gemacht;
Doch wird er ob des Dünkels
Dann billig ausgelacht.

 

Geisheim gibt noch den Hinweis „nach der Melodie von ‚Für fünfzig alte Weiber'“; da mir das aber nichts sagt im Moment, verweise ich auf Paul McCartneys We all stand together, mit dem es eine, äh: Schnittmenge gibt. Frösche, zum Beispiel; und man wundert sich …